Fall «Dr. Jan Cierny» (Recklinghausen/Oer‑Erkenschwick, 1984–1985)

 

Kern der Tatvorwürfe
Der praktische Arzt Dr. Jan Cierny betäubte 35 Patientinnen im Alter von 17 bis 44 Jahren mit dem Narkotikum «Brevimytal Natrium» unmittelbar vor Ultraschalluntersuchungen, ohne medizinische Indikation oder Aufklärung. Zwei Patientinnen wurden im betäubten Zustand sexuell missbraucht bzw. vergewaltigt; in weiteren Fällen kam es zu sexuellen Nötigungen. Die Eingriffe wurden weder dokumentiert noch überwacht; Wiederbelebungsmaßnahmen waren nicht vorbereitet. Das Gericht wertete die Betäubungen als gefährliche Körperverletzungen an 35 Frauen und sah in zwei Fällen sexuelle Delikte als erwiesen an.

Vorgehensweise und Modus Operandi
Cierny injizierte «Brevimytal Natrium» stereotyp und unabhängig von der konkreten Beschwerde, etwa bei «Luft im Bauch». Betroffene erwachten desorientiert und berichteten über genitale Berührungen. Eine Patientin suchte direkt nach dem Erwachen eine Gynäkologin und die Kriminalpolizei auf; Sachverständige bestätigten im Verfahren die Vergewaltigung unter Narkose. Hinweise auf «spezielle Ultraschallkenntnisse» wurden im Prozess zugunsten des Angeklagten erwähnt, obwohl Ausbildungsnachweise fehlten.

Ermittlungen, Prozess, Urteil
Die Strafkammer des Landgerichts Bochum verurteilte Cierny zu fünf Jahren und sechs Monaten Haft. Der Staatsanwalt hatte sieben Jahre beantragt; das Gericht berücksichtigte zugunsten des Angeklagten dessen bis dahin als «integre Persönlichkeit» beschriebene Vita und die Publizität des Verfahrens. Ein Berufsverbot wurde trotz der Haftlänge nicht verhängt; die Kammer verwies darauf, dass Cierny durch die Strafe faktisch nicht mehr als Arzt arbeiten könne. Fluchtgefahr wurde bejaht; er verließ den Saal in Haft.

Besondere Fallmerkmale
- Systematische Sedierung ohne Aufklärung, Monitoring oder Dokumentation; keine Einträge in den Krankenunterlagen.
- Gerichtliche Anerkennung zweier Sexualdelikte (Vergewaltigung, sexuelle Nötigung) bei gleichzeitiger Skepsis gegenüber weiteren Zeuginnenaussagen; gleichwohl Feststellung von 35 gefährlichen Körperverletzungen.
- Frühes Leitbeispiel in NRW für Missbrauch unter Narkose in Praxisumgebung; beleuchtet strukturelle Defizite bei Dokumentation, Aufklärung und Betäubungsmittelkontrolle in der damaligen Zeit.

Rechts- und Präventionsrelevanz
Der Fall gilt als frühes Präzedenzbeispiel für die strafrechtliche Bewertung von Sedierungen ohne Indikation als gefährliche Körperverletzung und für die Anerkennung sexualisierter Gewalt unter Narkose im ambulanten Setting. Er unterstreicht die Notwendigkeit von:
- strenger Aufklärung und Einwilligungsdokumentation,
- Monitorings- und Notfallstandards bei Sedierungen,
- revisionssicherer Dokumentation, Betäubungsmittelverwaltung und Vier-Augen-Prinzipien bei Intimuntersuchungen.

 

Quellen


«Haft für Mißbrauch von Patientinnen»
Petra Bornhöft – taz | 26.3.1987

«Arzt hat Patientinnen mißbraucht» 
Petra Bornhöft – taz | 12.3.1987