Kinderkrankenpfleger aus Hildesheim zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt

 

Das Landgericht Hildesheim hat am 9. September 2013 den 36-jährigen Kinderkrankenpfleger Marc R. wegen Vergewaltigung, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und sexueller Nötigung zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt. Zusätzlich ordnete das Gericht die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik und ein lebenslanges Berufsverbot an. Der Mann hatte zwischen 2009 und 2013 zwölf junge Patientinnen auf der Kinderstation des Klinikums Hildesheim sowie acht weitere junge Frauen in Privatwohnungen betäubt und sexuell missbraucht.

 

Nachtschichten als Tatzeit

Marc R. nutzte seine Nachtschichten auf der Kinderstation des Hildesheimer Klinikums, wenn er allein mit den Patienten war. Die Kinder und Jugendlichen im Alter von zehn bis 17 Jahren waren vollständig seiner Obhut anvertraut. «Den Ermittlungen zufolge passierten die Übergriffe in der Regel nachts, als der Pfleger alleine Dienst auf der Kinderstation hatte», erklärte die Staatsanwaltschaft.

 

Der Pfleger ging dabei immer nach demselben Schema vor: Er betäubte die zehn- bis 15-jährigen Mädchen mit dem Narkosemittel Midazolam, das zusätzlich zu Gedächtnisverlust führt. Anschließend verging er sich an den wehrlosen Kindern und dokumentierte seine Taten mit Fotos und Videos. «Ein Opfer habe er etwa missbraucht, während ein weiteres Kind im Krankenzimmer war», berichtete die BILD über besonders verstörende Details aus dem Prozess.

 

Perverse Jagd auf weitere Betroffene

Neben den Übergriffen im Klinikum machte Marc R. auch außerhalb seiner Arbeitszeit Jagd auf Betroffene. In Diskotheken in Celle sprach er junge Frauen an und gab sich als Arzt oder Mediziner in Ausbildung aus. «Der Mann hatte sie in einer Diskothek in Celle angesprochen und sich als Arzt ausgegeben, der ihr zu Schulungszwecken Blut abnehmen und dies filmen wolle», schilderte die Süddeutsche Zeitung sein Vorgehen.

Marc R. überredete die Frauen, ihn nach Hause zu begleiten oder sie zu sich einzuladen. Unter dem Vorwand einer Blutabnahme für einen befreundeten Arzt bot er ihnen sogar Geld. Dann sedierte er sie ohne ihr Wissen mit Spritzen und vergewaltigte sie in seiner Wohnung in Hannover oder im Wohnmobil seines Vaters. Auch diese Taten hielt er mit der Kamera fest.

 

Aufdeckung durch Zufall

Die Ermittler kamen Marc R. nur durch Zufall auf die Spur. Eine junge Frau aus Celle hatte Misstrauen geschöpft und Anzeige gegen ihn erstattet - zunächst nur wegen Missbrauchs von Berufsbezeichnungen und Körperverletzung, bevor er sie missbrauchen konnte. «Die Polizei war auf den Pfleger aufmerksam geworden, als eine Frau ihn zunächst nur wegen Missbrauchs des Arzttitels angezeigt hatte», berichtete die Süddeutsche Zeitung.

Bei der Durchsuchung seiner Wohnung in Hannover im März 2012 entdeckten die Ermittler Videos und Fotos von sexuellen Übergriffen aus dem Zeitraum von 2009 bis Januar 2013. «Zum Verhängnis sind dem 35-Jährigen, laut der Sprecherin der Hildesheimer Staatsanwaltschaft, Christina Pannek, die selbstgedrehten Videos der Taten geworden. Darauf seien sämtliche Verbrechen festgehalten», erklärte der SPIEGEL.

 

Nicht alle Betroffenen identifiziert

Besonders tragisch ist die Tatsache, dass nicht alle Betroffenen identifiziert werden konnten. «Nicht alle Opfer konnten identifiziert werden, weil er die Gesichter der schlafenden beziehungsweise betäubten Patientinnen oftmals mit Tüchern abdeckte», berichtete DIE WELT. Das von Marc R. verwendete Betäubungsmittel Midazolam führte zu Gedächtnisverlust, sodass die Betroffenen nachher nicht wussten, was ihnen angetan worden war.

Die Ermittler vermuteten, dass sich die ersten entdeckten Verbrechen bereits 2009 ereigneten, weil das Hildesheimer Klinikum damals noch in einem inzwischen abgerissenen Altbau untergebracht war. «Die Ermittler stießen auf Videos, die den Missbrauch von Patientinnen zeigen. Dies sei aber vermutlich nur um die Spitze eines Eisberges, denn es müssten noch zahlreiche Datenträger ausgewertet werden», erklärte der Staatsanwalt Thomas Pfleiderer.

 

Krisenstab und Notfalltelefon

Das Klinikum Hildesheim reagierte sofort nach Bekanntwerden der Vorwürfe. «Das Klinikum Hildesheim hatte nach der Festnahme des Pflegers einen Krisenstab gebildet und ein Notfalltelefon eingerichtet», berichteten mehrere Medien übereinstimmend. Die Klinikleitung und die Ermittler gingen davon aus, dass sich zahlreiche verunsicherte Familien von ehemaligen Patienten melden würden.

Geständnis und Entschuldigung

Marc R. gestand zu Prozessbeginn alle 20 Taten im Zeitraum zwischen 2009 und 2013. Sein Verteidiger erklärte, er wolle den Betroffenen eine Aussage vor Gericht ersparen. Am letzten Prozesstag vor der Urteilsverkündung entschuldigte sich der Angeklagte: «Es tut mir leid, ich bin froh, dass es zu Ende ist», sagte er vor Gericht.

 

Psychiatrische Begutachtung

Ein psychiatrischer Sachverständiger diagnostizierte bei Marc R. eine Paraphilie, eine schwere seelische Abartigkeit mit abnormen sexuellen Neigungen. In seinem Fall beschränkte sie sich auf einen ausgeprägten Fußfetischismus, der bei allen Taten eine Rolle spielte. Das Gericht sah ihn deshalb als vermindert schuldfähig an, gleichzeitig bestehe aber eine «beträchtliche Rückfallgefahr».

 

Urteil und Bewertung

Das Landgericht Hildesheim verurteilte Marc R. zu neuneinhalb Jahren Haft wegen Vergewaltigung, schweren Missbrauchs und Körperverletzung. Die Staatsanwaltschaft hatte zwölf Jahre Haft gefordert, die Verteidigung neun Jahre. Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung sprachen sich für die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik aus.

«Er hat die Vertrauensstellung, die er gegenüber allen Opfern hatte, aufs Gröbste missbraucht», sagte der Vorsitzende Richter Volker Heckemüller. Zusätzlich zur Haftstrafe verhängte das Gericht ein lebenslanges Berufsverbot für die medizinische Pflege.

Eine anschließende Sicherungsverwahrung lehnte das Gericht ab. «Wir haben sie abgelehnt, weil wir davon ausgehen, dass sämtliche Taten maßgeblich auf der sexuellen Devianz des Angeklagten beruhen», erklärte Richter Heckemüller. Man sehe in Marc R. keinen sogenannten Hangtäter.

 

Langfristige Folgen

«Wir haben feststellen müssen, dass die Opfer auch heute noch massiv unter den Taten leiden», sagte Richter Heckemüller bei der Urteilsverkündung. «Spätfolgen sind zu erwarten, auch bei denen, die noch nicht wissen, dass sie Opfer waren.» Nach dem Urteil verzichteten sowohl der Pfleger als auch die Nebenklage auf eine Berufung, wodurch das Urteil rechtskräftig wurde.

Ermittlungsversäumnisse

Der Fall warf auch Fragen zur Arbeit der Ermittlungsbehörden auf. Obwohl Marc R. bereits im März 2012 festgenommen wurde, dauerte es ein ganzes Jahr, bis die sichergestellten Datenträger vollständig ausgewertet waren. In dieser Zeit beging er weitere Taten. Die Gewerkschaft der Polizei und der Niedersächsische Richterbund kritisierten, dass zu wenige Polizisten im Bereich der Auswertung digitaler Speichermedien eingesetzt würden.

 

 

Quellen

 

«Kinderpfleger soll betäubte Mädchen missbraucht haben»
Stern | 7. März 2013
https://www.stern.de/panorama/verbrechen/klinikum-hildesheim-kinderpfleger-soll-betaeubte-maedchen-missbraucht-haben-3107740.html

«Hildesheim: Anklage gegen Krankenpfleger wegen Missbrauch»
DER SPIEGEL | 24. Juni 2013
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/hildesheim-anklage-gegen-krankenpfleger-wegen-missbrauch-a-907769.html

«Prozess gegen Krankenpfleger in Hildesheim: Sexueller Missbrauch auf der Kinderstation»
DER SPIEGEL | 12. August 2013
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/prozess-gegen-krankenpfleger-in-hildesheim-sexueller-missbrauch-auf-der-kinderstation-a-916391.html

«Der 36-Jährige betäubte seine Opfer: Pfleger gibt Vergewaltigungen zu»
n-tv | 12. August 2013
https://www.n-tv.de/panorama/Pfleger-gibt-Vergewaltigungen-zu-article11163581.html

«Krankenpfleger drohen 15 Jahre Haft»
Süddeutsche Zeitung | 12. August 2013
https://www.sueddeutsche.de/panorama/nach-missbrauch-betaeubter-patientinnen-krankenpfleger-drohen-15-jahre-haft-1.1745373

«Hildesheim: Pfleger gesteht Vergewaltigung betäubter Kinder»
DIE WELT | 13. August 2013
https://www.welt.de/regionales/hamburg/article118973396/Hildesheim-Pfleger-gesteht-Vergewaltigung-betaeubter-Kinder.html

«Hildesheim: Zwölf Jahre Haft für Krankenpfleger gefordert»
DER SPIEGEL | 29. August 2013
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/hildesheim-zwoelf-jahre-haft-fuer-krankenpfleger-gefordert-a-919502.html

«Neun Jahre und sechs Monate Haft für perversen Krankenpfleger in Hildesheim»
BILD | 8. September 2013
https://www.bild.de/news/inland/vergewaltigung/urteil-krankenpfleger-hildesheim-32315426.bild.html

«Kinderpfleger wegen Missbrauchs verurteilt»
DIE ZEIT | 8. September 2013
https://www.zeit.de/news/2013-09/09/prozesse-kinderpfleger-wegen-missbrauchs-verurteilt-09160408

«Urteil: Hildesheimer Krankenpfleger muss in die Psychiatrie»
Süddeutsche Zeitung | 8. September 2013
https://www.sueddeutsche.de/panorama/sexueller-missbrauch-in-hildesheim-krankenpfleger-muss-in-die-psychiatrie-1.1765863

«Prozess in Hildesheim: Urteil gegen Krankenpfleger»
DER SPIEGEL | 8. September 2013
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/prozess-in-hildesheim-urteil-gegen-krankenpfleger-a-921214.html