
O S N A B R Ü C K
Arzt filmte & missbrauchte
72 Patientinnen
&
verbreitete
Kinderpornographie
Ein besonders gravierender Fall von sexuellem Missbrauch im medizinischen Bereich ereignete sich zwischen 2009 und 2013 in Osnabrück. Ein 62-jähriger Hausarzt nutzte seine Vertrauensstellung aus, um über Jahre hinweg Patientinnen zu filmen und zu missbrauchen. Der Fall zeigt, wie Ärzte ihre Machtposition ausnutzen können und welche verheerenden Folgen dies für die Betroffenen hat.
Täuschung
Über die Biographie und Ausbildung des Täters sind aus den verfügbaren Quellen nur wenige Details bekannt. Der Mann war zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung 62 Jahre alt und praktizierte als Hausarzt in Osnabrück. Er war verheiratet, wobei seine Ehe infolge der aufgedeckten Straftaten zerbrach. Der Verteidiger Thomas Klein beschrieb, dass der Angeklagte in Osnabrück « völlig isoliert » gewesen sei und Freundschaften zerbrochen seien. Die Kollegen seien « sehr sauer darauf » gewesen, « was er dem Berufsstand angetan » habe. Zur beruflichen Laufbahn vor den Straftaten liegen keine konkreten Informationen vor. Bekannt ist lediglich, dass er bis vor zwei Jahren als Hausarzt in Osnabrück gearbeitet hatte.
Seine Praxis befand sich in der Stadt, wo er über Jahre hinweg das Vertrauen seiner Patientinnen missbrauchte. Zwischen Dezember 2009 und November 2013 entwickelte der Arzt ein hinterhältiges System zur Ausbeutung seiner Patientinnen. Mit einer in einem Kugelschreiber versteckten Minikamera filmte er 72 Frauen, als sie sich auf seine Anweisung hin entkleideten. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass er in insgesamt 70 Fällen teilweise entkleidete Patientinnen heimlich gefilmt hatte.
Besonders verwerflich war sein Vorgehen bei 12 (zunächst 13) Patientinnen, die psychisch krank, geistig oder körperlich behindert waren. Diese Frauen berührte er unter anderem während angeblicher Untersuchungen mit dem Stethoskop in sexueller Absicht an der Brust, ohne dass dafür eine medizinische Notwendigkeit bestanden hätte. Das Gericht stellte fest: « Es handelte sich ausschließlich um sexuell motivierte Gründe ». Der Mediziner nutzte gezielt die besondere Verletzlichkeit dieser Patientinnen aus, die aufgrund ihrer Behinderungen oder Erkrankungen in einem rechtlich besonders geschützten Behandlungsverhältnis standen. Schätzungen gehen davon aus, dass insgesamt mehr als 200 Patientinnen betroffen waren und über 400 Einzelaufnahmen entstanden. Ob sich unter den 72 gefilmten Patientinnen auch Minderjährige befanden, lässt sich aus den verfügbaren Quellen nicht eindeutig klären. Die spezifische Anklage wegen öffentlichen Zugänglichmachens von Kinderpornographie in 12 Fällen lässt jedoch die Möglichkeit offen, dass auch selbst produziertes Material mit Minderjährigen im Spiel war. Der besondere Schutz jugendlicher Opfer könnte eine explizite Erwähnung in der Berichterstattung verhindert haben.
Razzia
Parallel zu den Übergriffen in seiner Praxis war der Arzt auch im Bereich der Kinderpornographie aktiv. Zwischen September und November 2013 bot er in zwölf Fällen kinderpornographische Dateien auf einer Online-Tauschbörse an. Bei der späteren Hausdurchsuchung stellten die Ermittler umfangreiches belastendes Material sicher: 79.500 kinderpornographische Bilder, 6.200 jugendpornographische Bilder und 3.300 kinderpornographische Videos. Diese Aktivitäten in der Tauschbörse sollten letztendlich zu seinem Verhängnis werden, da die Polizei durch Ermittlungen in der kinder- und jugendpornographischen Szene auf seine IP-Adresse stieß.
Der Fall kam im Februar 2014 ins Rollen, allerdings nicht durch Anzeigen betroffener Patientinnen, sondern durch Ermittlungen der Polizei in einem anderen Bereich. Die Ermittler waren bei der Verfolgung von Kinderpornographie im Internet auf die IP-Adresse des Arztes gestoßen. Bei der daraufhin durchgeführten Hausdurchsuchung entdeckten sie nicht nur die kinderpornographischen Dateien, sondern auch die heimlichen Aufnahmen seiner Patientinnen. Diese Entdeckung war für die Ermittler offenbar überraschend, da ursprünglich nur wegen der Kinderpornographie ermittelt wurde. Der Fund der Patientenaufnahmen eröffnete eine völlig neue Dimension des Falls und führte zu umfangreichen weiteren Ermittlungen.
Die erste Berichterstattung über den Fall erfolgte bereits im Februar 2014 durch den Spiegel. Damals war bekannt geworden, dass ein Osnabrücker Hausarzt unter Verdacht stand, « Hunderte Patientinnen bei Untersuchungen heimlich gefilmt zu haben ». Die betroffenen Frauen seien der Polizei namentlich bekannt und würden zu Hause befragt worden. Mit dem Beginn des Prozesses im September 2015 nahm die Medienberichterstattung erheblich zu. Überregionale Medien wie Zeit Online, FAZ, Süddeutsche Zeitung, Welt, Stern und N-TV berichteten ausführlich über den Prozess und das Urteil. Die lokale Berichterstattung erfolgte insbesondere durch die Neue Osnabrücker Zeitung, die auch über die Auswirkungen in der Stadt berichtete.
Urteil
Der Prozess vor der 10. großen Strafkammer des Landgerichts Osnabrück begann am 8. September 2015 und war unter dem Aktenzeichen 10 KLs 10/15 geführt. Insgesamt waren vier Verhandlungstage angesetzt. Vorsitzender Richter war Dieter Temming, der später Professor und Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Oldenburg wurde. Der Gerichtssaal war mit 30 bis 40 Besuchern, überwiegend Frauen, völlig überfüllt. Die Spannung war « fast mit Händen zu greifen », als der Angeklagte in gebückter Haltung den Saal betrat und den Blick ins Publikum vermied.
Auf Antrag des Verteidigers Thomas Klein schloss die Strafkammer die Öffentlichkeit von der Aussage des Angeklagten aus. Richter Temming begründete dies damit, dass es nicht nur um schutzwürdige Persönlichkeitsrechte des Mediziners gehe, sondern auch darum, die Patientinnen vor der Öffentlichkeit zu schützen. Der Angeklagte legte daraufhin ein umfassendes Geständnis ab. Die Berichterstattung machte deutlich, welche Wirkung der Fall in der Ärzteschaft auslöste. Der Verteidiger des Angeklagten beschrieb das Verfahren als « großes Drama » nicht nur für die Patientinnen, sondern auch für den Berufsstand.
Am 16. September 2015 verkündete das Landgericht Osnabrück das Urteil. Der 62-jährige Arzt wurde wegen Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen in 58 Fällen, sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses in 12 Fällen, öffentlichen Zugänglichmachens von Kinderpornographie in 12 Fällen und wegen Besitzes von Kinderpornographie zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Zusätzlich verhängte das Gericht ein dreijähriges Berufsverbot und verpflichtete ihn zur Zahlung von 75.000 Euro an drei gemeinnützige Einrichtungen. Richter Temming machte deutlich, dass der Angeklagte « nie wieder als Arzt arbeiten » werde. Der Verurteilte hatte bereits im Prozess versprochen, seine Approbation zurückzugeben. Das Gericht betonte: « Der Angeklagte steht vor den Trümmern seiner privaten und beruflichen Existenz ». Bei der Strafzumessung berücksichtigte das Gericht strafmildernd das umfassende Geständnis des Angeklagten und seine erheblichen Bemühungen um Schadenswiedergutmachung. Bereits vor dem Urteil hatte er über 160.000 Euro Schmerzensgeld an seine Patientinnen gezahlt. Das Gericht sah keine Wiederholungsgefahr, da der Arzt nie wieder in seinem Beruf arbeiten werde. Der Vorsitzende wies ausdrücklich darauf hin, dass es sich die Kammer bei der Bildung einer bewährungsfähigen Gesamtstrafe nicht leicht gemacht habe.

Trauma
Die Auswirkungen auf die betroffenen Patientinnen waren verheerend. 72 Frauen waren namentlich bekannt und mussten von der Polizei zu Hause befragt werden. Besonders traumatisierend war die Situation für die 12 bis 13 Frauen, die nicht nur gefilmt, sondern auch sexuell missbraucht wurden. Diese Patientinnen waren aufgrund ihrer psychischen Erkrankungen, geistigen oder körperlichen Behinderungen besonders verletzlich. Der Arzt nutzte gezielt deren eingeschränkte Fähigkeit aus, sich zu wehren oder das Geschehene einzuordnen.
Das Gericht stellte fest, dass die Berührungen « ohne medizinische Notwendigkeit » und « ausschließlich aus sexuell motivierten Gründen » erfolgten. Die bereits vor dem Urteil geleisteten Schmerzensgeld-Zahlungen in Höhe von über 160.000 Euro zeigen das Ausmaß der zugefügten Schäden. Dennoch kann kein Geldbetrag das zerstörte Vertrauen und die psychischen Folgen der Übergriffe wiedergutmachen.
Der Fall verdeutlicht fundamentale Probleme im Umgang mit sexuellen Übergriffen im medizinischen Bereich. Über Jahre hinweg konnte der Arzt unentdeckt agieren, obwohl er das Vertrauen seiner Patientinnen missbrauchte. Die Aufdeckung erfolgte nur zufällig durch Ermittlungen in einem anderen Deliktbereich. Besonders problematisch ist die Tatsache, dass der Täter gezielt vulnerable Patientinnen auswählte - Frauen mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen, die sich schwerer wehren konnten oder deren Aussagen möglicherweise weniger Glauben geschenkt worden wäre. Dies zeigt ein geplantes Vorgehen und die bewusste Ausnutzung von Machtgefällen. Der Fall führte zu intensiven Diskussionen über Kontrollmechanismen in Arztpraxen und den Schutz vulnerabler Patientengruppen. Der Osnabrücker Fall verdeutlicht gravierende Defizite im deutschen Rechtssystem beim Umgang mit sexuellen Übergriffen durch Ärzte. Obwohl § 174c StGB sexuelle Handlungen unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses mit drei Monaten bis fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht, zeigt die Praxis, dass diese Strafandrohung oft nicht angemessen umgesetzt wird. Das dreijährige Berufsverbot im Osnabrücker Fall ist ebenfalls als unzureichend zu bewerten. Während § 70 StGB Berufsverbote von einem Jahr bis zu fünf Jahren oder sogar lebenslang vorsieht, wird diese Möglichkeit in der Praxis zu selten und zu zurückhaltend angewendet. Die Hürden für einen Approbationsentzug sind in Deutschland extrem hoch, was dazu führt, dass selbst verurteilte Sexualstraftäter oft weiter praktizieren können.

QUELLEN
« Hausarzt soll Hunderte Patientinnen heimlich gefilmt haben »
· wit/dpa, Spiegel ︱ 05.02.2014, 12.00 ·
« Vorwürfe gegen Osnabrücker Mediziner: Hausarzt filmt heimlich Patientinnen »
· vpe/dpa, n-tv ︱ 05.02.2014, 12:34 ·
« Kugelschreiber-Kamera: Arzt wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt »
· AFP/sh, Augsburger Allgemeine ︱ 18.03.15, 08:18 ·
« Hausarzt legt Geständnis ab: Patientinnen heimlich gefilmt und missbraucht »
· dpa, Mitteldeutsche Zeitung ︱ 08.09.2015, 15:41 ·
« Prozess in Osnabrück: Arzt soll halbnackte Patientinnen gefilmt haben »
· dpa, Stern ︱ 08. September 2015 16:00 ·
· dpa, Süddeutsche Zeitung ︱ 8. September 2015, 17:12 ·
« Prozess: Arzt filmte mit Kugelschreiber-Kamera heimlich Patientinnen »
· dpa/lni/joe, Berliner Morgenpost ︱ 08.09.2015, 17:38 ·
« Osnabrück: Halb nackte Patientinnen heimlich gefilmt - Arzt legt Geständnis ab »
· apr/dpa, Spiegel ︱ 08.09.2015, 18.33 ·
« Osnabrück: Bewährungsstrafe und Berufsverbot für Arzt, der 72 Patientinnen filmte »
· dpa, Süddeutsche Zeitung ︱ 16. September 2015, 14:17 ·
« Landgericht Osnabrück: Bewährungsstrafe für heimlich filmenden Arzt »
· Frankfurter Allgemeine Zeitung ︱ 16.09.2015, 15:04 ·
« Landgericht Osnabrück: Arzt filmt Patientinnen »
· dpa, Süddeutsche Zeitung ︱ 16. September 2015, 19:01 ·
« Prozess in Osnabrück: Arzt machte heimlich Nacktbilder mit Kugelschreiber »
· dpa/sud, Welt ︱ 16.09.2015 ·
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