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Bewährung statt Haft
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Logopäde missbraucht fünfjähriges Mädchen
Der 49-jährige Täter wurde zu 1 Jahr und 3 Monaten verurteilt.
Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt, mit drei Jahren Bewährungszeit.
Im Mai 2003 missbrauchte ein Logopäde im Landkreis Düren (Eifel) ein fünfjähriges Mädchen während einer Therapiesitzung in seiner Praxis. Obwohl der Fall am 28. April 2010 in Leipzig vor dem Bundesverwaltungsgericht in einem Grundsatzurteil endete und 2019 noch einmal gerichtlich nachwirkte, blieb die öffentliche Resonanz erstaunlich gering. Es ist eine Geschichte über das, was in geschlossenen Räumen passieren kann, über den langen Atem des Rechts – und über die Grenzen medialer Aufmerksamkeit. Es hätte ein Fall werden können, der deutschlandweit Debatten auslöst. Das Kind kam seit vier bis fünf Monaten regelmäßig in die Praxis, die Eltern vertrauten dem Therapeuten – so, wie es Millionen Eltern jeden Tag tun. Laut Gerichtsakten sprühte der Logopäde Sprühsahne auf sein Geschlechtsteil und verleitete das Kind dazu, diese abzulecken; anschließend sprühte er Sahne auf die Genitalien des Mädchens und leckte sie ab. Später gab er an, das Kind habe «ja» gesagt, als er fragte, ob er es «auch bei ihr tun solle». Eine Aussage, die im Lichte des massiven Macht- und Abhängigkeitsgefälles geradezu zynisch wirkt.
Am 7. Januar 2004 verurteilte das Amtsgericht den damals 49-Jährigen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten – zur Bewährung ausgesetzt. Er musste keine Haft antreten, erhielt aber ein dreijähriges Berufsverbot für die Behandlung weiblicher Minderjähriger unter 16 Jahren. Ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen einer 28-jährigen Patientin mit Down-Syndrom aus dem Jahr 2001 wurde nach § 154 StPO eingestellt – nicht, weil es widerlegt wurde, sondern weil die prozessualen Voraussetzungen fehlten. Die Taten liegen mehr als zwei Jahrzehnte zurück. Das Mädchen von damals ist heute 27 Jahre alt. Ob und wie sie Unterstützung erhielt, wie die Familie den Missbrauch verarbeitet hat, bleibt in den Akten ohne Stimme.
Die Macht der Anonymisierung
Trotz der Schwere des Delikts blieb der überregionale Aufschrei aus. Aus den Gerichtsurteilen geht hervor, dass «intensiv in der Presse» berichtet wurde und der Fall «in E. und Umgebung bekannt» war – doch diese regionale Berichterstattung folgte den üblichen Mustern: Täterschutz durch Anonymisierung, Opferschutz durch Verzicht auf Details. So blieb der Fall zwar lokal präsent, gewann aber nie überregionale Aufmerksamkeit. Überregionale Medien schalteten sich erst ein, als der Fall zur Grundsatzfrage wurde: Darf man die Berufserlaubnis eines Heilberuflers auf bestimmte Patientengruppen beschränken?
2009 entschied das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen überraschend, der vollständige Entzug sei unverhältnismäßig. Nach einem psychiatrischen Gutachten sei das Rückfallrisiko bei weiblichen Patientinnen erhöht, bei männlichen nicht – also dürfe der Mann Jungen und Männer weiter behandeln. Ein Jahr später zog das Bundesverwaltungsgericht eine klare Linie: Die Berufserlaubnis eines Logopäden ist unteilbar; wer für einen Teil seiner Patienten unzuverlässig ist, ist es für alle. Erst diese Weichenstellung brachte bundesweite Meldungen – nicht die Tat selbst, sondern die juristische Konsequenz.
Der endlose Kampf um Rehabilitation
Seit 2010 kämpfte der Mann um seine berufliche Rückkehr – ein Kampf, der von persönlichen Tragödien überschattet wird. Seine Ehefrau, selbst Logopädin, ist schwer an Rheuma erkrankt und dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen. Sie arbeitet in Teilzeit in einer öffentlichen Einrichtung. Die Beziehung gilt laut Gutachten als «belastet» – geprägt von Konflikten und Abhängigkeiten, die bereits zur Tatzeit bestanden und bis heute nachwirken. Seine Mutter, ebenfalls Logopädin, übernahm 2010 seine Praxis, musste sie aber 2016 wieder schließen. Er selbst arbeitete danach als Bürokraft in der verkleinerten Praxis der Mutter, bis auch dieses Arbeitsverhältnis endete. Seit Juni 2017 ist er arbeitslos gemeldet.
Drei Anträge auf Wiederzulassung, drei Ablehnungen. Dabei verwies er auf Jahre intensiver Psychotherapie – Einzelsitzungen und gruppendynamische Selbsterfahrung mit anderen Betroffenen. Gutachter attestierten ihm eine «Verbesserung des psychischen Funktionsniveaus», doch ein entscheidender Punkt blieb ungeklärt: die Motivation für die Tat. 2013 und 2019 blieb das Verwaltungsgericht Aachen dabei: Für die Wiederzulassung brauche es eine zweifelsfrei positive Prognose. Solange der Mann nicht plausibel machen könne, warum es 2003 zur Tat kam – und wie er solche Konstellationen künftig sicher vermeidet –, genügten weder Zeitablauf noch Therapieerfolge.
Statistik versus Realität
Die Zahlen sprechen eigentlich für ihn: Laut gerichtlich referenzierten Forschungsergebnissen liegt die Rückfallquote für Ersttäter bei sexuellem Missbrauch nach neun Jahren bei nur 2,8 Prozent für erneute Missbrauchsdelikte, bei 5,5 Prozent für Sexualdelikte insgesamt. Therapie kann diese Quote zusätzlich um 26,3 Prozent senken. Doch die Gerichte hielten dagegen: In der spezifischen Situation der Logopädie – Einzelsitzungen mit Kindern, Menschen mit Behinderung, hilflosen Patienten – sei selbst ein «niedriger einstelliger Prozentbereich» zu viel. Für Eltern, Kinder und Betroffene ist jedes Restrisiko zu viel.
Besonders ins Gewicht fiel dabei ein weiterer Umstand: Der Mann konnte auch nach Jahren der Therapie nicht schlüssig erklären, was damals in ihm vorging. Bei der Begutachtung 2018 gab er an, er könne sich nicht mehr an Details der Tat erinnern und verstehe nicht, wie es dazu kommen konnte. «Je länger die Tat zurückliegt, desto schwieriger wird es, die damaligen Beweggründe zu rekonstruieren», erklärt ein Psychiater, der ähnliche Fälle begutachtet hat. «Gleichzeitig verlangen die Gerichte genau diese Aufarbeitung.»
Warum wir wegschauen
Der Fall wirft unbequeme Fragen auf: Warum erregt ein spektakulärer Missbrauchsfall in einer Kita oder einem Internat monatelang die Gemüter, während andere Fälle im Verborgenen bleiben? Warum interessiert sich die Öffentlichkeit mehr für juristische Spitzfindigkeiten als für die systemischen Ursachen von Kindesmissbrauch? Weil er nicht in das Muster der großen Skandale passte. Kein Internat, keine Institution mit Dutzenden Opfern, keine Bilderflut. Ein einzelnes Kind in einer Praxis. Ein Täter, der sprachtherapeutische Hilfe versprach – und Grenzen brach. Ein Instanzenzug, der eher Fachleute als Schlagzeilen anzog.
Genau darin liegt seine Mahnung: Missbrauch geschieht oft in stillen Räumen. Prävention heißt dann, diese Räume anders zu denken – durch Strukturen, die Eins-zu-eins-Situationen absichern, durch Sensibilisierung von Eltern, durch interne Standards in Praxen, die im Zweifel mehr Aufwand bedeuten, aber Vertrauen aktiv schützen.
Ein Fall ohne Abschluss
Heute, im August 2025, ist der Fall juristisch dort, wo ihn das Bundesverwaltungsgericht 2010 verortet hat: Der Widerruf bleibt bestehen, weitere Wiederzulassungsversuche sind formal möglich, aber nach der letzten Ablehnung 2019 nicht dokumentiert. Der heute 71-jährige Mann lebt nicht mehr in seinem Beruf, sondern mit den Folgen – arbeitslos, mit einer schwerkranken Ehefrau, in einer Familie, die der Fall zerrüttet hat. Seine Geschichte ist die eines Systems, das zwischen Rehabilitation und Patientenschutz navigiert und dabei manchmal vergisst, dass hinter jedem Fall Menschen stehen.
Und irgendwo lebt eine Frau, die als Fünfjährige Opfer eines Verbrechens wurde, das die Gesellschaft lieber vergessen möchte. Ihr Name stand nie in den Schlagzeilen, ihre Geschichte wird nicht erzählt. Sie ist das wahre Gesicht eines Falls, der zeigt, wie unser System mit den unbequemen Wahrheiten über Kindesmissbrauch umgeht: indem es sie verschwinden lässt. Vergessen ist dieser Fall nur dort, wo man nicht hinsehen will.
Quellen
«OVG NRW, Urteil vom 20.05.2009 – 13 A 2569/06»
Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen︱20.05.2009
«Urteil: Pädophiler Logopäde darf nicht mehr praktizieren»
DER SPIEGEL︱28.04.2010
«BVerwG, Urteil vom 28.04.2010 – 3 C 22.09»
Bundesverwaltungsgericht︱28.04.2010
«VG Aachen, Urteil vom 14.03.2019 – 5 K 3902/17»
Verwaltungsgericht Aachen︱14.03.2019