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Die Kinder von Homburg
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Eine Geschichte von Verrat
Vertuschung & verlorenem Vertrauen

Der Fall des Assistenzarztes Matthias S. am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg gilt als einer der größten Missbrauchsskandale in der deutschen Krankenhausgeschichte. Über Jahre hinweg missbrauchte der Mediziner seine Position, um Kinder sexuell zu missbrauchen, während Kollegen, Vorgesetzte und Behörden wegschauten oder aktiv vertuschten. Der Skandal wirft fundamentale Fragen über den Kinderschutz in medizinischen Einrichtungen und den Umgang mit Verdachtsmomenten auf.

Biografie

 

Über die frühen Lebensjahre und die Ausbildung von Matthias S. liegen nur wenige gesicherte Informationen vor. Was bekannt ist: Er absolvierte ein Medizinstudium und spezialisierte sich auf Kinder- und Jugendpsychiatrie. Bereits 2004, während eines Praktikums in einer bayerischen Klinik, gab es erste Hinweise auf seine pädophilen Neigungen. Die Polizei fand später ein Foto aus dieser Zeit, das einen etwa achtjährigen Jungen mit dem erigierten Penis in der Hand des Erwachsenen zeigt - es war die Hand von Matthias S.

Karriere

 

Im Jahr 2010 begann Matthias S. seine Tätigkeit als Assistenzarzt in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg. Er arbeitete in der sogenannten « Ausscheidungsambulanz », einer Spezialambulanz für Kinder mit Ausscheidungsstörungen. Seine Oberärztin nannte ihn später den « Scheinkönig », weil er mehr Patienten behandelte als alle anderen Kollegen. Zwischen 2011 und 2014 behandelte er mehr als 300 Kinder, fast ausschließlich Jungen im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren.

 

Von Anfang an fielen den Kollegen ungewöhnliche Verhaltensweisen auf. Matthias S. bat regelmäßig die Eltern, das Behandlungszimmer zu verlassen, angeblich weil sich die Kinder vor ihren Eltern schämen würden. Schwestern und Ärzte bemerkten, dass er auffällig viele Einläufe bei den Kindern durchführte - der Verbrauch von Klistieren war seit Beginn seiner Tätigkeit deutlich gestiegen. Zudem führte er wesentlich mehr Untersuchungen im Genital- und Analbereich durch, als in dieser Ambulanz üblich und medizinisch angezeigt war.

Anonymes Schreiben

 

Am 9. Juni 2011 erhielt der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Professor Alexander von Gontard, ein anonymes Schreiben mit einer deutlichen Warnung: « Es besteht der dringende Verdacht, dass der Assistenzarzt in der Kinderpsychiatrie des Klinikums Homburg eine pädophile Veranlagung hat. » Das Schreiben wies darauf hin, dass er Patienten im Genitalbereich untersuche, auch wenn dies nicht nötig sei.

 

Dem Klinikchef musste sofort klar sein, dass nur Matthias S. gemeint sein konnte. Eine von ihm befragte Psychologin antwortete ausweichend auf die Frage, ob sie glaube, dass S. pädophil sei, bezeichnete seine Behandlungsmethoden aber als « übergriffig ». Von Gontards Reaktion war minimal: Er wies Matthias S. mündlich an, körperliche Behandlungen in Zukunft nur noch in Anwesenheit einer zweiten erwachsenen Person durchzuführen - eine Ermahnung, die nirgends protokolliert wurde. Eine Überprüfung, ob seine Anweisung befolgt wurde, gab es nicht.

Vietnam-Reise

 

2012 reiste Matthias S. nach Vietnam, begleitet von einem ärztlichen Kollegen aus der Klinik. Dieser Kollege beobachtete, wie Matthias S. nicht nur Kinder fotografierte, sondern einmal vier Jungen im Alter von etwa acht bis elf Jahren auf sein Hotelzimmer mitnahm. Es kam zu einem so heftigen Streit zwischen den beiden Ärzten, dass sogar die Polizei aufmerksam wurde. Der Kollege wird später bereuen, damals nicht « die Alarmglocken geläutet zu haben ».

 

Trotz dieser Vorfälle stellte von Gontard Matthias S. im Januar 2013 öffentlich zur Seite. In der Reihe « Kunst in der Mensa » am Universitätsklinikum zeigten beide gemeinsam Fotografien - ausgerechnet « beeindruckende Kinderporträts aus Indien oder auch Asien ». Von Gontard ließ sich sogar mit dem Satz zitieren: « Dieses gemeinsame Ausstellen mit Matthias S. gab den Ausschlag für mich, in diesem Jahr zum ersten Mal meine Fotografien hier zu zeigen ».

Judotrainer

 

Parallel zu seiner Tätigkeit in der Klinik führte Matthias S. ein Doppelleben als Judotrainer. Er erzählte Eltern, dass er in seiner Freizeit die « Bambini » im Judoverein Kenshi in Homburg zweimal in der Woche trainiere. Einige seiner kleinen Patienten waren auch Mitglieder in diesem Verein. Manche Kinder blieben nach dem Training über Nacht bei ihm und wurden erst am nächsten Morgen wieder abgeholt. Für die Eltern war Matthias S. ein vertrauenswürdiger Arzt und Judotrainer.

 

In seinem Haus hatte er als Single ein komplettes Kinderzimmer mit Matratzenlager und Spielzeug eingerichtet. Seine Oberärztin entdeckte dies im Sommer 2013 bei einem Grillfest, als sie ihren dreijährigen Sohn « auf einer Matratze unter einer Decke » zusammen mit Matthias S. im ersten Stock fand. Ihre Reaktion beschränkte sich auf die Worte « Was macht Ihr denn hier? » und « Komm, wir gehen jetzt runter ». Später bezeichnete sie dies als « insgesamt eine komische Situation ».

Erste Anzeige

 

Im Frühjahr 2013 erstattete das Jugendamt in Homburg Anzeige gegen Matthias S.. Der Vorwurf: Er habe über das Internet gezielt einen sexuellen Kontakt zu einem zwölfjährigen Jungen angebahnt. Die Staatsanwaltschaft sah den Anfangsverdacht jedoch als nicht erhärtet an und stellte die Ermittlungen unter dem Aktenzeichen 16Js 47/13 wieder ein.

 

Als sei nie etwas geschehen, arbeitete Matthias S. weiter in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Obwohl ihm untersagt worden war, Kinder ohne Anwesenheit einer zweiten erwachsenen Person zu behandeln, gelang es ihm immer wieder, allein mit den Kindern im Behandlungszimmer zu sein. In die Patientenakten trug er Namen von Krankenschwestern als anwesend ein, obwohl diese Urlaub hatten oder laut Dienstplänen anderswo arbeiteten.

Kündigung

 

Im April 2014 wechselte Matthias S. im Rahmen seiner Facharztausbildung für ein Jahr in die Westpfalzklinik in Kaiserslautern. Ausgestattet war er mit einem erstklassigen Zeugnis seines Klinikchefs von Gontard, der seine Arbeit als hervorragend beurteilte: « ein wacher Geist (...) immer hilfsbereit (...), sein persönliches Verhalten einwandfrei, volle Zufriedenheit ». Von Gontard bescheinigte seinem Assistenzarzt « uneingeschränkte » Eignung und « überdurchschnittliche klinische Fähigkeiten ». Matthias S. verließ Homburg mit dem Versprechen seines Chefs, dass ihm nach seiner Rückkehr eine Stelle als Facharzt sicher sei.

 

Doch am 18. Dezember 2014 - während Matthias S. in Kaiserslautern arbeitete - erstattete das Klinikum plötzlich Strafanzeige gegen ihn bei der Polizei in Saarbrücken. Der Vorwurf: « sexueller Missbrauch von jungen Patienten in der Zeit von 2010 bis 2014 (...) wegen der Pädophilie mit homosexueller Neigung zu erwartende steigernde Übergriffe auf Kinder (...) Manipulation von Krankenakten ». Noch am selben Tag erhielt Matthias S. die fristlose Kündigung.

 

Die Ärztekammer des Saarlandes wird später aussagen, sie habe von den Vorfällen in der Kinderpsychiatrie erfahren und der Klinikleitung dringend geraten, Strafanzeige zu stellen und den Assistenzarzt zu entlassen. Unterdessen arbeitete Matthias S. ahnungslos weiter in Kaiserslautern und bewarb sich dort sogar auf eine Stelle in der Kinderklinik. Weder die Ärztekammer noch das Klinikum in Rheinland-Pfalz wurden über die Vorwürfe informiert.

Hausdurchsuchung

 

Am 12. März 2015, morgens um halb sieben, durchsuchten sechs Polizeibeamte die Wohnung von Matthias S.. Sie entdeckten « ein komplett eingerichtetes Kinderzimmer » und konfiszierten Tausende von Fotos auf Computern und Datenträgern, die als « Posingbilder und Kinderpornografie einzustufen » waren. Darunter befanden sich auch Fotos von seinen jungen Patienten.

 

Klinikchef von Gontard erklärte der Polizei am 9. Januar 2015, er habe sich 30 willkürlich ausgewählte Patientenakten angesehen. Daraus sei ersichtlich geworden, dass der Beschuldigte Untersuchungen an Kindern vorgenommen habe, die in 95 Prozent der Fälle medizinisch überhaupt nicht indiziert gewesen seien. Diese Erkenntnis hatte er eigentlich bereits seit dem anonymen Schreiben 2011. Von Gontard bot an, der Polizei die 30 herausgesuchten Patientenordner zur Verfügung zu stellen - allerdings nur unter der Bedingung, dass man ihm zusage, « nicht an die Eltern heranzutreten ».

Polizeivernehmungen

 

Die Polizei vernahm alle Kollegen, die seit 2010 mit Matthias S. zusammengearbeitet hatten - Ärzte, Psychologen, Krankenschwestern. Alle gaben an, dass sich Matthias S. seinen kleinen Patienten gegenüber mindestens übergriffig verhalten habe. Auch wenn sich die Kinder gegen ihn wehrten, habe er seine Untersuchungen fortgesetzt.

 

Die ermittelnde Kommissarin fragte bei der zuständigen Staatsanwältin in Saarbrücken, ob man nicht an die Eltern der Kinder herantreten müsse. Auch die Staatsanwältin in Zweibrücken schlug vor, « die Eltern der Kinder zu ermitteln, um diese auf mögliche Traumatisierungen ihrer Kinder hinzuweisen ». Doch die Staatsanwältin in Saarbrücken hielt sich weiterhin an die Forderung des Klinikdirektors von Gontard, die Eltern nicht zu informieren.

Tod

 

Am 19. Juni 2016 ereignete sich das Ereignis, das die Ermittlungen abrupt beendete. Ein elfjähriger Junge, der am Vorabend bei Matthias S. übernachtet hatte, fand den 36-jährigen Arzt am Morgen tot in seinem Bett. Der Junge konnte zunächst keine Hilfe herbeirufen und verständigte erst am späten Nachmittag über WhatsApp seine Mutter. Der hinzugezogene Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen.

 

Die Todesumstände werfen jedoch erhebliche Fragen auf. Matthias S. starb zu einem äußerst brisanten Zeitpunkt: Die Staatsanwaltschaft stand « offenbar kurz davor, Anklage gegen den Assistenzarzt der Homburger Kinder- und Jugendpsychiatrie zu erheben ». Bei der Hausdurchsuchung waren « drei kinderpornografische Fotos » gefunden worden, eine Anklage wurde als « nicht weit weg » und « wahrscheinlich » bezeichnet.

 

Besonders rätselhaft bleibt, warum der elfjährige Junge vom Morgen bis zum späten Nachmittag brauchte, um Hilfe zu holen. Die verfügbaren Quellen erklären diese stundenlange Verzögerung nicht. Ebenso unklar ist, welche Behörden am Tatort waren und welche Untersuchungen zur Klärung der Todesumstände durchgeführt wurden. Die Öffentlichkeit erhielt nur die lapidare Information, dass Matthias S. « offenbar eines natürlichen Todes » starb und « eine Fremd- oder Gewalteinwirkung ausgeschlossen werden » konnte.

 

Für die Staatsanwaltschaften in Saarbrücken und Zweibrücken bedeutete der Tod das sofortige Ende aller Ermittlungen. Die Ermittlungen wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs « unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses nach §174 StGB und des Besitzes oder Verschaffung von Kinderpornografie nach §184 StGB » wurden eingestellt.

 

Die Klinikleitung bestand darauf, die 30 Patientenakten zurückzuerhalten. In mehreren Telefongesprächen forderten Klinikdirektor von Gontard und seine Justitiarin die Staatsanwältin auf, keine Informationen an die betroffenen Eltern weiterzugeben. Der sexuelle Missbrauch sei möglicherweise « nicht so erheblich », und die Eltern würden durch die Benachrichtigung unnötig geschockt. Die Staatsanwältin verfügte endgültig, « dass nicht mehr beabsichtigt ist, die betroffenen Patienten bzw. deren Eltern zu informieren » und gab die Patientenakten an die Klinik zurück.

Aufdeckung

 

Der Fall wäre möglicherweise für immer vertuscht geblieben, wenn nicht im April 2019 die Mutter eines elfjährigen Jungen namens Jonas (Name geändert) durch puren Zufall davon erfahren hätte. Sie war in anderer Sache bei der Polizei in Saarbrücken, als ein Beamter auf seinem Bildschirm las, dass ihr Sohn in der Polizeidatei als Betroffener eines sexuellen Missbrauchs geführt wurde. « Und dann sagte der Polizist mir, dass unser Sohn als Missbrauchsopfer geführt wird », berichtete die Mutter später.

 

Die Eltern waren geschockt. « Zuerst habe ich gedacht, das wäre ein Irrtum, aber dann sind wir aufgeklärt worden, dass unser Sohn jahrelang schon als Missbrauchsopfer geführt wird und wir davon nicht unterrichtet wurden », so der Vater. Am folgenden Tag wandten sich die Eltern an die Rechtsanwältin Claudia Willger, eine Spezialistin für Opferschutz in Missbrauchsfällen.

Medienberichterstattung

 

Am 27. Juni 2019 berichteten die Journalisten Klaus Martens und Peter F. Müller für das WDR-Magazin « Monitor » erstmals über den Fall. Die investigative Recherche brachte das ganze Ausmaß der Vertuschung ans Licht. Auf einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz erklärte die Landesregierung, sie habe 34 Eltern darüber informiert, dass ihr Kind Patient eines mutmaßlich pädophilen Arztes war. Auch die übrigen 300 Patienten sollten angeschrieben werden.

 

Die damalige Ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer behauptete, erst im April 2019 von dem Fall erfahren zu haben. Die Justizstaatssekretärin Anke Morsch gab hingegen an, schon Anfang 2015 unterrichtet worden zu sein und sieben Berichte zu den Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft erhalten zu haben. Diese Diskrepanzen warfen weitere Fragen über das Ausmaß der Vertuschung auf.

 

Nach Bekanntwerden des Skandals meldeten sich 58 Personen und Familien beim UKS. In 44 Fällen wurden Gespräche geführt oder vereinbart. Dies zeigt das wahre Ausmaß des Skandals, das weit über die ursprünglich bekannten Fälle hinausging.

Disziplinarverfahren

 

Nach der öffentlichen Aufdeckung wurden erste Konsequenzen eingeleitet. Gegen den Klinikleiter Alexander von Gontard wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet, das jedoch später wieder eingestellt wurde. Das Landesamt für Soziales überprüfte, ob ihm die Zulassung als Arzt entzogen werden müsse. Von Gontard ließ seine Tätigkeit « bis auf Weiteres ruhen » und die kommissarische Leitung der Klinik übernahm Professor Dr. Michael Zemlin.

 

Die Rechtsanwältin Claudia Willger stellte bei der Polizei Saarbrücken Strafanzeigen gegen die Klinikleitung und beteiligte Ärzte. Auch gegen eine Oberärztin, die Justiziarin der Homburger Uniklinik und eine Staatsanwältin, die vor dem Tod des Arztes in der Sache ermittelt hatte, wurden Anzeigen erstattet. Die Vorwürfe gegen die Staatsanwältin wurden an die Generalstaatsanwaltschaft als übergeordnete Behörde weitergegeben.

 

Das Ergebnis war jedoch ernüchternd: Trotz des schwerwiegenden Versagens auf allen Ebenen blieben konkrete personelle Konsequenzen weitgehend aus. Die meisten Verantwortlichen konnten ihre Karrieren fortsetzen oder gingen ungeschoren in den Ruhestand. Dies verstärkte bei vielen Betroffenen und der Öffentlichkeit den Eindruck, dass das System sich selbst schützt und echte Aufarbeitung verhindert.

Untersuchungsausschuss

 

Der saarländische Landtag setzte einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ein, der über zwei Jahre die Vorgänge untersuchte. Der Sozialausschuss hatte sich bereits im Juli 2019 sieben Stunden lang unter Ausschluss der Öffentlichkeit über den Skandal informieren lassen. Die Abgeordneten zeigten sich entsetzt über das Gehörte.

 

« Die Antworten lassen uns fassungslos zurück », sagte der Vorsitzende der CDU-Landtagsfraktion, Alexander Funk. Frühen Hinweisen nach pädophilem Verhalten sei nicht nachgegangen worden, Kontrollen hätten nicht stattgefunden. Zusätzlich wurde ein unabhängiger Sonderermittler eingesetzt - der frühere saarländische Kripo-Chef Harald Schnur.

 

Der Untersuchungsausschuss legte 2022 einen 587-seitigen Abschlussbericht vor, der eine Fülle von Missständen dokumentierte. Der Bericht sprach von « Unterlassungen, Fehlentscheidungen, Vertuschungen, Systemfehlern » und einer « Kultur des Wegschauens ». Es wurde deutlich, dass es bereits sehr früh Hinweise auf die pädophilen Neigungen von Matthias S. gab - sowohl im beruflichen als auch privaten Umfeld. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss konnte jedoch keine Verantwortlichkeiten für die Versäumnisse klären.

 

Dennis Lander von der Linkspartei kritisierte die angekündigten Maßnahmen als « Aktionismus » und warf der Landesregierung vor: « All das kann nicht vom völligen Versagen der für die Aufsicht über das landeseigene Uniklinikum verantwortlichen Landesregierung hinwegtäuschen. » Er fügte hinzu: « Ein Aufsichtsrat, der von der Beschlagnahmung von Krankenakten, Missbrauch-Ermittlungen und einer fristlosen Kündigung eines Arztes wegen Kindesmissbrauch nichts mitbekommen haben will, hat den Namen nicht verdient und muss sich fragen lassen, was er überhaupt so treibt. »

Aufarbeitungskommission

 

2021 setzte das Universitätsklinikum eine Unabhängige Aufarbeitungskommission (UAK) unter der Leitung des früheren Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke, ein. Die Kommission sollte « die Kinder als die eigentlichen Betroffenen und ihre Angehörigen in den Mittelpunkt rücken ». Sieben Experten gehörten dem Gremium an, das über zwei Jahre lang die Vorgänge untersuchte.

 

Die Aufarbeitungskommission verschickte über 800 Schreiben an möglicherweise betroffene Familien. Trotz dieser umfassenden Ansprache meldeten sich nur 52 Familien zurück. Lediglich elf Betroffene konnten letztendlich identifiziert werden. « Es ist nicht einfach, nach so langer Zeit das Vertrauen der Betroffenen und die Bereitschaft der Eltern zur Mitwirkung zu gewinnen », berichtete Ziercke.

 

Die Kommission registrierte mehr als 80 Missbrauchsverdachtsfälle. Nach der Auswertung der 52 Patientenakten stufte sie sieben Fälle « mit besonders hoher Belastung » ein, bei 31 Fällen liege eine « Belastung » vor. In 14 Fällen konnte « keine Belastung » festgestellt werden.

Fotografische Dokumentation

 

Die Tatsache, dass Matthias S. regelmäßig die Eltern aus dem Behandlungszimmer bat, legt nahe, dass er seine Taten nicht nur verübte, sondern auch dokumentierte. Bei der Hausdurchsuchung 2015 fanden die Ermittler « Tausende von Fotos auf Computern und Datenträgern », darunter « auch Fotos von seinen jungen Patienten ». In keinem der verfügbaren Berichte wird jedoch explizit erwähnt, ob unter dem beschlagnahmten Material auch Aufnahmen aus der Ausscheidungsambulanz waren, obwohl Matthias S. dort über 300 Kinder behandelte. Diese Informationslücke könnte darauf hindeuten, dass entsprechende Beweise entweder vernichtet wurden oder bewusst nicht kommuniziert wurden, um das Ausmaß des Skandals zu begrenzen.

HNO-Fall

 

Parallel zum Fall Matthias S. ereignete sich am 27. Juli 2012 ein weiterer Missbrauchsfall am UKS Homburg, der bis heute ungeklärt ist. Ein sechsjähriges Mädchen wurde « im Nasenrachenraum operiert » und sollte « nach dem Eingriff noch im Operationssaal ein Zäpfchen gegen die Schmerzen » erhalten. Als der Arzt « eine blutende Wunde im Genitalbereich sowie einen klaffenden Anus » entdeckte und zu dem Schluss kam, das Mädchen könnte « fraglich vergewaltigt worden sein », wurde die Kinderschutzgruppe des Uniklinikums informiert.

 

Die medizinischen Umstände werfen Fragen auf: Die Verabreichung eines rektalen Zäpfchens bei liegendem intravenösem Zugang ist medizinisch unüblich. Normalerweise liegt die postoperative Schmerztherapie in der Verantwortung des Anästhesisten oder der Pflegekräfte im Aufwachraum. Die Identität des « Arztes », der das Zäpfchen verabreichte, blieb bis heute ungeklärt.

 

Auch hier folgte das gleiche Vertuschungsmuster: « Die Mutter wird über den Vorfall zunächst nicht informiert » mit der Begründung, « um Schaden von der Institution abzuwenden ». Der HNO-Direktor « verpflichtete seine Mitarbeiter, darüber zu schweigen ». Bis heute « gibt es in dem Fall keine Strafanzeige ». Als die Eltern « Strafanzeige stellen wollen, rät die Klinik ihnen davon ab ». Der parlamentarische Untersuchungsausschuss wurde über diesen Fall « bislang nicht informiert ». Die Staatsanwaltschaft Saarbrücken stellte 2021 die Ermittlungen wegen der HNO-Verdachtsfälle ein.

Entschädigungen

 

Im Mai 2023 legte die Aufarbeitungskommission ihren Abschlussbericht vor und sprach sich für finanzielle Entschädigungen der Betroffenen aus. Für erlittenes Unrecht sollten Betroffene je nach Schwere der Belastung Summen von 5.000 bis 50.000 Euro erhalten. Für die sieben Fälle mit besonders hoher Belastung empfahl die Kommission dem Aufsichtsrat des UKS einen Betrag von je 50.000 Euro. In 31 Fällen mit Belastungen wurden Summen von 5.000 bis 30.000 Euro vorgeschlagen.

 

Ende 2023 wurden schließlich in neun Fällen sogenannte Anerkennungszahlungen beschlossen. Die Summen lagen je nach Fall zwischen 5.000 und 50.000 Euro. In einem Fall konnte keine Einigung erzielt werden, in einem weiteren Fall sollten noch weitere medizinische Untersuchungen abgewartet werden. Mit der Zahlung der Entschädigungen war die Arbeit der eigens eingerichteten Clearingstelle zur Aufarbeitung des Skandals abgeschlossen.

Strukturelle Reformen

 

Der Fall Matthias S. führte zu strukturellen Veränderungen am UKS. Das Universitätsklinikum entwickelte nach dem Skandal ein neues Kinderschutzkonzept. Ein wichtiger Punkt: das Mehr-Augen-Prinzip bei der Behandlung von Kindern wurde zur Pflicht - Eltern oder Kollegen müssen immer anwesend sein. Bei der Personalauswahl wurden Änderungen angekündigt: Neben dem erweiterten polizeilichen Führungszeugnis wird von neuen Mitarbeitern eine « freiwillige Selbstauskunft » erwartet.

 

Die Uniklinik stellte außerdem einen « Verhaltenskodex » auf und führte ein « Prüfschema » für besonders sensible Arbeitsplätze ein. « Neben dem Filtermechanismus wirkt diese Vorgehensweise zudem abschreckend auf potenzielle Täter », erklärte das Klinikum. Zudem sollen Schulungen eingeführt werden: « Die Beschäftigten sollen lernen, wie sie bei Verdachtsfällen bestmöglich reagieren. »

 

Professor Dr. Wolfgang Reith, der damalige Ärztliche Direktor, räumte ein: « Man hätte damals die Eltern der Kinder schon informieren müssen, was da vorgefallen ist ». Das Land kündigte an, Geldbußen in fünfstelliger Höhe zu verhängen, wenn Kliniken künftig Verdachtsfälle nicht melden.

 

Aus den verfügbaren Informationen geht jedoch nicht hervor, wer konkret das neue Vier-Augen-Prinzip und die anderen Schutzmaßnahmen kontrolliert und überwacht. Es gibt keine Angaben über unabhängige Kontrollinstanzen, keine Information über externe Aufsicht der neuen Maßnahmen und es ist unklar, wer die Einhaltung des Vier-Augen-Prinzips überwacht oder welche Sanktionen bei Nichteinhaltung drohen.

Betroffene

 

Für die Betroffenen und ihre Familien hatte die jahrelange Vertuschung dramatische Folgen. « Es gibt Mütter, die sich massive Vorwürfe machen », berichtete ein Sprecher der Aufarbeitungskommission. Die meisten Kinder waren zur Tatzeit fünf bis acht Jahre alt. Viele Eltern konnten lange Zeit Verhaltensauffälligkeiten ihrer Kinder nicht einordnen.

 

Die Rechtsanwältin Claudia Willger beschrieb den Fall als besonders erschütternd: « Ich habe wirklich schon viele schwierige Lebensgeschichten gehört, aber das hat einfach meine Vorstellungskraft absolut gesprengt, dass ausgerechnet in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie Kinder so was von verraten werden ». Sie kritisierte auch den mangelnden Respekt gegenüber den Eltern: « Ich konnte es mir nicht vorstellen, dass auch Eltern so wenig Respekt gegenüber gebracht wird, wenn sie hier ihre Kinder zur Behandlung bringen ».

 

Die Aufarbeitungskommission empfahl, dass Betroffene und Angehörige einen leichten Zugang zu dauerhaften therapeutischen Hilfen bekommen sollten. Auch Angehörige, die teils bis heute unter dem Geschehenen leiden, sollten finanziell berücksichtigt werden.

Judoclub

 

Der Judoclub Kenshi Homburg-Erbach, in dem Matthias S. als Trainer tätig war, wurde ebenfalls in die Aufarbeitung einbezogen. Die Aufarbeitungskommission schrieb alle ehemaligen und aktuellen Mitglieder an. « Im Rahmen der bisherigen Aufarbeitung ergaben sich keine konkreten Beweise über etwaige Übergriffe im Judo Kenshi Homburg Erbach e.V. », hieß es in dem Anschreiben. Dennoch könne nicht gänzlich ausgeschlossen werden, « dass der besagte Trainer sein Amt im Verein missbrauchen wollte, um Missbrauchstaten anzubahnen ».

Fazit

 

Der Fall Matthias S. steht beispielhaft für das Versagen eines ganzen Systems. Über Jahre hinweg ignorierten Klinikleitung, Staatsanwaltschaft und Politik deutliche Warnzeichen. Die « Kultur des Vertuschens und Nicht-Reagierens » führte dazu, dass ein Täter ungehindert weitermachen konnte. Erst durch einen Zufall wurde der Skandal aufgedeckt - drei Jahre nach dem Tod des Täters.

 

Der parlamentarische Untersuchungsausschuss sprach von einer « Kultur des Wegschauens ». Die Unabhängige Aufarbeitungskommission stellte ein « verheerendes Zeugnis » aus. Der Fall zeigt, wie wichtig transparente Strukturen, konsequente Kontrollen und der Mut sind, bei Verdachtsmomenten zu handeln - zum Schutz der schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft.

 

Die Entschädigungszahlungen und neuen Schutzkonzepte können das erlittene Leid nicht ungeschehen machen. Sie sind aber ein wichtiger Schritt, um den Betroffenen Anerkennung für ihr Leid zu geben und künftige Fälle zu verhindern. Der Fall Matthias S. bleibt eine Mahnung dafür, dass der Schutz von Kindern oberste Priorität haben muss - auch und gerade in Institutionen, denen wir vertrauen.

Q U E L L E N

« Jahrelang vertuscht: Mutmaßlicher Missbrauch an Uniklinik »

· WDR ︱ 2019 ·

 

« Uni-Klinik im Saarland: Assistenzarzt soll Kinder sexuell missbraucht haben »

· Der Tagesspiegel ︱ 24.06.2019 ·

 

« Arzt soll Kinder an Uni-Klinik im Saarland missbraucht haben »

· WELT ︱ 24.06.2019 ·

 

« Saarland: Arzt soll Kinder missbraucht haben - neue Ermittlungen »

· DER SPIEGEL ︱ 24.06.2019 ·

 

« Mutmaßlicher Missbrauch an Uniklinik – MONITOR »

· WDR, YouTube ︱ 01.07.2019 ·

 

« Ekel-Arzt Matthias S.: Kein Missbrauch im Westpfalz-Klinikum »

· BILD ︱ 17.07.2019 ·

 

« Ekel-Arzt Matthias S.: RLP-Ärzte-Kammer wusste von nix »

· BILD ︱ 17.07.2019 ·

 

« Missbrauchsskandal an Uniklinik: Vorwürfe der Opferanwältin »

· FAZ ︱ 19.07.2019 ·

 

« Missbrauch-Skandal zieht Kreise »

· Ärzte Zeitung ︱ 23.07.2019 ·

 

« Sexueller Missbrauch an Uniklinik »

· Süddeutsche Zeitung ︱ 02.08.2019 ·

 

« Missbrauch an Klinikum Homburg: Geschichte des Versagens »

· Frankfurter Rundschau ︱ 12.11.2019 ·

 

« Uniklinik in Homburg wehrt sich gegen Vertuschungsvorwürfe »

· kma Online ︱ 13.11.2019 ·

 

« Missbrauchsverdacht an HNO-Klinik: Ermittlungen eingestellt »

· Süddeutsche Zeitung, dpa ︱ 21.04.2021 ·

 

« Wie Kindesmissbrauch in Saarländer Klinik vertuscht wurde »

· YouTube ︱ 08.10.2021 ·

 

« Ausschuss beanstandet Vertuschungen bei Uniklinik Saarland »

· Ärzte Zeitung ︱ 20.01.2022 ·

 

« Uniklinik Homburg: Mann soll vor 25 Jahren missbraucht worden sein »

· BILD ︱ 26.01.2022 ·

 

« Universitätsklinikum Saarland entschuldigt sich bei Missbrauchsopfern »

· Ärzte Zeitung ︱ 21.10.2022 ·

 

« Missbrauchsskandal an Uniklinik: Entschädigungen gefordert »

· Süddeutsche Zeitung, dpa ︱ 24.05.2023 ·

 

« Aufarbeitung des Skandals an Uniklinik: Missbrauchsopfer sollen entschädigt werden »

· BILD ︱ 24.05.2023 ·

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