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Sexuelle Belästigung
im Krankenhaus
·
Die Grenzen
des Patientinnenschutzes

 

 

 

 

Im März 2022 verhandelte das Schöffengericht Siegburg unter Vorsitz von Richter Ulrich Wilbrand einen Fall, der die Problematik sexualisierter Gewalt im medizinischen Bereich und die Schwächen des deutschen Rechtssystems beim Schutz von Patientinnen aufzeigt. Ein 46-jähriger Arzt stand wegen sexueller Belästigung einer 26-jährigen Pflegekraft vor Gericht – ein Verfahren, das ohne Urteil endete und den Beschuldigten faktisch straffrei ließ.

 

 

 

Vorfall

 

Die Anklage basierte auf einem Vorfall, der sich im August 2019 in einem Krankenhaus ereignete. Laut Aussage der Geschädigten folgte ihr der Arzt nach einem gemeinsamen Spätdienst in die Damenumkleide. Dort bedrängte er sie massiv zu sexuellen Handlungen, packte ihren Kopf und versuchte, ihn zu seinem Schoß zu ziehen. Die junge Frau war völlig perplex, stammelte weinend «Bitte nicht» und wehrte sich erst, als die Situation eskalierte. Der Arzt verließ daraufhin fluchtartig den Raum.

 

Die Betroffene schloss anschließend die Tür ab, wusch sich die Hände und alarmierte eine Kollegin. Erst nach Gesprächen mit der Ärztin in der Notaufnahme und einem Telefonat mit ihrer Schwester fasste sie den Mut, Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Der Arzt erhielt umgehend Hausverbot und die Kündigung, die Pflegekraft war drei Monate krankgeschrieben

 

 

Widersprüche

 

Vor dem Siegburger Schöffengericht standen sich zwei völlig unterschiedliche Versionen der Ereignisse gegenüber. Richter Ulrich Wilbrand beschrieb die Situation flockig als Frage, ob der Angeklagte der «Casanova» des Krankenhauses gewesen sei oder ob er die junge Frau gewaltsam sexuell genötigt habe.

 

Der verheiratete, vierfache Vater behauptete, die Pflegekraft habe sich einige Monate zuvor «an ihn herangemacht». Er habe zu dieser Zeit Stress mit seiner Ehefrau gehabt, sie psychische Probleme. Die angebliche Affäre habe er Mitte August beendet. Den Vorfall in der Umkleide stellte er als harmlosen Kuss auf den Hals dar – einen Fehler, durch den er ihre Gefühle verletzt habe.

 

Die Geschädigte widersprach dieser Darstellung vehement. Sie beschrieb ihre Beziehung zu dem Arzt lediglich als vertrauliche «Kumpel-Beziehung» und gab an, sich nicht an seinen oft anzüglichen Sprüchen gestört zu haben. Andere Kolleginnen hingegen hätten ungern mit dem Mediziner Dienst gehabt. Später erfuhr sie, dass er eine Beziehung zu einer Kollegin aus einer anderen Abteilung führte, die ihn sogar als ihren «Mann» bezeichnete.

 

 

Manipulation

 

Besonders aufschlussreich war eine Handy-Nachricht, die der Arzt wenige Minuten nach dem Vorfall an die Geschädigte schickte. Er entschuldigte sich und beschwor sie, ihm noch das Wochenende mit der Familie zu gönnen und ihn erst am Montag anzuzeigen. Richter Wilbrand zitierte aus dem Chat: «Es tut mir so leid. Denk' an meine kleinen Kinder.» Diese Nachricht offenbart ein manipulatives Verhalten, bei dem der Beschuldigte seine Rolle als Familienvater instrumentalisierte, um eine Anzeige zu verzögern.

 

 

Verdrängung

 

Die Staatsanwältin wies auf Widersprüche zwischen der polizeilichen Vernehmung und der Aussage im Zeugenstand hin. Bei der Polizei hatte die Pflegekraft einen weiteren, ähnlichen Vorfall aus dem Schwesternzimmer geschildert, den sie vor Gericht nicht erwähnte. Auf Nachfrage antwortete sie: «Das muss ich wohl verdrängt haben.» Auf die Frage, warum sie den Arzt nicht gemieden habe, sagte sie: «Ich war wohl naiv.»

 

Diese Aussagen verdeutlichen ein typisches Muster bei sexualisierter Gewalt: Betroffene verdrängen traumatische Erlebnisse oder zweifeln an ihrer eigenen Wahrnehmung, besonders wenn sie in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Täter stehen.

 

 

Verfahrenseinstellung

 

Das Verfahren endete nicht mit einem Urteil, sondern wurde gemäß Paragraf 153a der Strafprozessordnung gegen eine Geldauflage von 5.000 Euro eingestellt, zahlbar an die deutsche Ukraine-Hilfsaktion. Diese Vorgehensweise ist bei Delikten mittlerer Kriminalität und nicht vorbestraften Beschuldigten möglich, wenn die Schuld als gering eingeschätzt wird.

 

Für den Arzt hatte diese Lösung entscheidende Vorteile: Eine strafrechtliche Verurteilung hätte ihm die angestrebte Facharztprüfung und die Übernahme einer Praxis als Allgemeinmediziner unmöglich gemacht. Durch die Einstellung des Verfahrens gilt er nicht als vorbestraft und kann seine beruflichen Pläne ungehindert verfolgen.

 

Die Geschädigte stimmte dieser Lösung zu mit der Begründung: «Ich möchte das nur abschließen und alle Nachrichten endlich löschen.» Diese Zustimmung darf nicht als Einverständnis mit dem Ausgang interpretiert werden, sondern spiegelt den verständlichen Wunsch wider, das belastende Verfahren zu beenden.

 

 

Unkenntnis

 

Der Fall verdeutlicht gravierende Lücken im Schutz von Patientinnen vor übergriffigen Ärzten. Es gibt keine öffentlich zugänglichen Informationen darüber, ob der Arzt seine Praxispläne verwirklichen konnte oder wo er heute praktiziert. In Deutschland existiert kein öffentliches Register, in dem sich Patientinnen über strafrechtlich oder berufsrechtlich belangte Ärzte informieren könnten.

 

Das Bundesarztregister der Kassenärztlichen Bundesvereinigung listet zwar alle Ärzte und Psychotherapeuten auf, die an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmen, enthält aber nur Informationen über Fachgebiete, Qualifikationen und Praxisstandorte – nicht jedoch über Strafverfahren oder berufsrechtliche Sanktionen.

 

Interne Datenbanken der Justiz und Polizei, wie die bayerische Datei «HEADS» für haftentlassene Sexualstraftäter, sind ausschließlich für Behörden zugänglich. Patientinnen haben somit keine Möglichkeit, sich vorab über potenzielle Risiken zu informieren.

 

 

Berufsrecht

 

Unabhängig von einem Strafverfahren können die Ärztekammern berufsrechtliche Schritte einleiten. Bei Verhalten, das einen Arzt als «unwürdig» oder «unzuverlässig» für die Ausübung seines Berufes erscheinen lässt, kann die Approbation entzogen werden. Sexuelle Übergriffe auf Patientinnen oder Kolleginnen können ein solcher Grund sein.

 

Eine strafrechtliche Verurteilung, insbesondere bei schweren Delikten wie sexuellem Missbrauch, führt oft zu einem Verfahren zum Entzug der Approbation. Dabei spielt es nicht zwingend eine Rolle, ob die Straftat in direktem Zusammenhang mit der Berufsausübung stand. Da das Verfahren in Siegburg jedoch ohne Urteil eingestellt wurde, gilt der Arzt nicht als vorbestraft. Die der Anklage zugrunde liegenden Vorwürfe könnten dennoch zu einer berufsrechtlichen Prüfung durch die Ärztekammer führen, aber das Ergebnis eines solchen Verfahrens wäre nicht öffentlich.

 

 

Täterschutz

 

Der Fall demonstriert einen fundamentalen Konflikt im deutschen Rechtssystem: Das Prinzip der Resozialisierung und die Rechte von Beschuldigten werden sehr hoch gewichtet, während der Schutz von Betroffenen und potenziell zukünftigen Geschädigten nachrangig behandelt wird.

 

Die Einrichtung öffentlicher Register wird kontrovers diskutiert. Befürworter argumentieren, dass Patientinnen ein Recht auf Information haben, um sich schützen zu können. Kritiker wenden ein, dass solche Register die Resozialisierung erschweren und nicht zwangsläufig zu mehr Sicherheit führen, da sie Täter in den Untergrund treiben könnten.

 

Das Ergebnis ist ein System, das aus der Perspektive von Betroffenen und der Allgemeinheit oft als zutiefst ungerecht empfunden wird: Ein Arzt, der einer sexuellen Nötigung beschuldigt wurde, kann ungehindert seine Karriere fortsetzen, während Patientinnen keine Möglichkeit haben, sich über potenzielle Risiken zu informieren.

 

 

Resümee

 

Der Fall aus Siegburg 2022 steht für die strukturellen Probleme im Umgang mit sexualisierter Gewalt im medizinischen Bereich. Während das deutsche Rechtssystem großen Wert auf die Resozialisierung von Tätern legt, bleiben Betroffene und potenzielle zukünftige Geschädigte ungeschützt. Die fehlende Transparenz und die Unmöglichkeit für Patientinnen, sich über die Vergangenheit ihrer Ärzte zu informieren, schaffen ein System, das Täterschutz über Patientinnenschutz stellt.

 

 

 

 

QUELLE

 

«Arzt wegen sexueller Belästigung in Siegburg vor Gericht»

Cordula Orphal︱Kölner Stadt-Anzeiger︱08.03.2022