Bordeaux

 

 

Weißer Kittel · Dunkle Taten
Der tiefe Fall
eines übergriffigen
Frauenarztes

 

 

Im Zentrum dieses Strafverfahrens steht der Frauenarzt [R] [Y], der seine berufliche Position dazu missbrauchte, sexuelle Übergriffe an mehreren Patientinnen zu begehen. Das Berufungsgericht Bordeaux hatte im Januar 2022 den Arzt für schuldig befunden, seine gynäkologische Praxis als Deckmantel für sexuelle Handlungen zu nutzen, die weit über medizinisch notwendige Untersuchungen hinausgingen.

 

Bei den Betroffenen handelte es sich um sechs Patientinnen, die sich in der verletzlichen Position befanden, sich einer vermeintlich professionellen gynäkologischen Behandlung zu unterziehen. Die Frauen hatten sich vertrauensvoll in seine Behandlung begeben, nur um dann Opfer seiner Übergriffe zu werden. Bei vier von ihnen konnte der strafrechtliche Vorwurf nachgewiesen werden.

 

Die Straftaten der sexualisierten Gewalt ereigneten sich während der gynäkologischen Untersuchungen, als die Patientinnen besonders schutzlos waren. Der Arzt nutzte dabei die Intimität der Untersuchungssituation und seine Autoritätsposition aus, um sich den Frauen in unangemessener Weise zu nähern und sexuelle Handlungen an ihnen vorzunehmen. Seine Position als Frauenarzt verschaffte ihm dabei einen erheblichen Vertrauensvorschuss, den er systematisch missbrauchte.

 

Besonders erschwerend wertete das Gericht, dass der Täter die Übergriffe während einer Zeit durchführte, in der die Patientinnen verletzlich und von seiner medizinischen Expertise abhängig waren. Nicht etwa Fehlinterpretationen medizinischer Handgriffe, sondern bewusste Übergriffe standen im Raum - was das Gericht als "äußerst schwerwiegend" einstufte. Die Tatsache, dass er als "erfahrener Arzt" anerkannt war, machte den Vertrauensbruch umso gravierender.

 

Die Ermittlungen begannen, als mehrere Frauen unabhängig voneinander Anzeige erstatteten. Im Laufe des Prozesses wurde deutlich, dass der Täter sein Vorgehen auf ähnliche Weise bei verschiedenen Patientinnen wiederholte, was auf ein systematisches und vorsätzliches Handeln hindeutete. Während psychologische Gutachten keine "perverse Funktionsweise" feststellen konnten, wurde dem Arzt dennoch ein klarer Missbrauch seiner Funktion nachgewiesen.

 

 

 

Kassationsgerichtshof, Strafkammer, 11. Dezember 2024, 22-82.720, Unveröffentlicht

 

Vollständiger Text

 

 

FRANZÖSISCHE REPUBLIK  

IM NAMEN DES FRANZÖSISCHEN VOLKES

 

 

DER KASSATIONSGERICHTSHOF, STRAFKAMMER, hat folgendes Urteil erlassen:

 

Nr. T 22-82.720 F-D  

Nr. 01506

SL2  

11. DEZEMBER 2024

TEILWEISE KASSATION

Vorsitzender: Herr BONNAL

 

FRANZÖSISCHE REPUBLIK  

IM NAMEN DES FRANZÖSISCHEN VOLKES

 

URTEIL DES KASSATIONSGERICHTSHOFS, STRAFKAMMER,  

VOM 11. DEZEMBER 2024

 

Herr [R] [Y] hat gegen das Urteil des Berufungsgerichts Bordeaux, Strafkammer, vom 13. Januar 2022 Kassationsbeschwerde eingelegt, das ihn wegen schwerer sexueller Übergriffe zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung und einem lebenslangen Berufsverbot verurteilt und über die zivilrechtlichen Ansprüche der Nebenklägerinnen entschieden hat.

 

Es wurden Schriftsätze eingereicht, sowohl für den Beschwerdeführer als auch für die Gegenseite.

 

Auf Bericht des Herrn Laurent, Beisitzender Richter, die Anmerkungen der SCP Bauer-Violas, Feschotte-Desbois und Sebagh, Anwälte von Herrn [R] [Y], die Anmerkungen der SCP Le Bret-Desaché, Anwälte von Frau [P] [C], und die Schlussfolgerungen von Frau Chauvelot, beigeordnete Generalanwältin, nach Verhandlung in öffentlicher Sitzung am 14. November 2024, bei der anwesend waren Herr Bonnal, Vorsitzender, Herr Laurent, Berichterstatter, Herr de Larosière de Champfeu, beisitzender Richter der Kammer, und Frau Lavaud, Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle.

 

Die Strafkammer des Kassationsgerichtshofs, zusammengesetzt gemäß Artikel 567-1-1 der Strafprozessordnung aus dem oben genannten Vorsitzenden und Beisitzern, hat nach gesetzesmäßiger Beratung das folgende Urteil erlassen:

 

Sachverhalt und Verfahren

 

1. Aus dem angefochtenen Urteil und den Verfahrensakten ergibt sich Folgendes:

 

2. Mit Verfügung vom 9. Oktober 2019 hat ein Untersuchungsrichter Herrn [R] [Y], Frauenarzt, unter dem Vorwurf sexueller Übergriffe an sechs Patientinnen, begangen durch eine Person, die ihre berufliche Autorität missbraucht, an das Strafgericht verwiesen.

 

3. Mit Urteil vom 12. Mai 2020 hat das Gericht ihn von den Vorwürfen bezüglich zweier Patientinnen freigesprochen, ihn im Übrigen für schuldig befunden, zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung und zu einem lebenslangen Verbot, den Arztberuf auszuüben, verurteilt und über die zivilrechtlichen Ansprüche entschieden.

 

4. Der Angeklagte, die Staatsanwaltschaft und die Nebenklägerinnen haben gegen diese Entscheidung Berufung eingelegt.

 

Prüfung der Kassationsgründe

 

Zu den ersten und zweiten Kassationsgründen

 

5. Diese sind nicht geeignet, die Zulassung der Kassationsbeschwerde im Sinne von Artikel 567-1-1 der Strafprozessordnung zu ermöglichen.

 

Zu den dritten und vierten Kassationsgründen

 

Darlegung der Kassationsgründe

 

6. Der dritte Kassationsgrund rügt das angefochtene Urteil, soweit es Herrn [Y] zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt hat, während "in Strafsachen jede Strafe unter Berücksichtigung der Schwere der Taten, der Persönlichkeit des Täters und seiner persönlichen Situation zu begründen ist; indem das Berufungsgericht Herrn [Y] zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt hat, ohne konkret auf seine Persönlichkeit oder auf seine persönliche Situation einzugehen, hat das Berufungsgericht seine Entscheidung nach den Artikeln 6, 7 und 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, 130-1, 132-1, 132-2 des Strafgesetzbuches, 591 und 593 der Strafprozessordnung nicht rechtlich begründet."

 

7. Der vierte Kassationsgrund rügt das angefochtene Urteil, soweit es gegen Herrn [Y] als Nebenstrafe das lebenslange Verbot, den ärztlichen Beruf und die Frauenheilkunde auszuüben, verhängt hat, während:

 

"1. In Strafsachen jede Strafe unter Berücksichtigung der Schwere der Taten, der Persönlichkeit des Täters und seiner persönlichen Situation zu begründen ist; diese besondere Begründungspflicht gilt für die Nebenstrafe des lebenslangen Berufsverbots; indem sich das Berufungsgericht darauf beschränkt hat, gegen Herrn [Y] die Nebenstrafe des lebenslangen Verbots, den ärztlichen Beruf und die Frauenheilkunde auszuüben, zu verhängen, ohne konkret auf seine Persönlichkeit oder auf seine persönliche Situation einzugehen, hat das Berufungsgericht seine Entscheidung nach den Artikeln 6 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 131-27, 132-1 des Strafgesetzbuches und 485, 512, 591 und 593 der Strafprozessordnung nicht rechtlich begründet."

 

Antwort des Gerichtshofs

 

8. Die Kassationsgründe werden gemeinsam behandelt.

 

Gemäß den Artikeln 132-1 des Strafgesetzbuches, 485-1 und 593 der Strafprozessordnung:

 

9. In Strafsachen muss jede Strafe unter Berücksichtigung der Umstände der Straftat, der Persönlichkeit des Täters und seiner materiellen, familiären und sozialen Situation begründet werden.

 

10. Jedes Urteil muss die Gründe enthalten, die die Entscheidung rechtfertigen. Die Unzulänglichkeit oder der Widerspruch in der Begründung kommt einem Fehlen der Begründung gleich.

 

11. Um das Urteil zu bestätigen, das Herrn [Y] zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung und zum lebenslangen Verbot, die Medizin auszuüben, verurteilt hat, führt das angefochtene Urteil aus, dass sein Strafregister keine Verurteilung enthält und dass der psychiatrische Sachverständige, der ihn untersucht hat, keine perverse Funktionsweise festgestellt hat.

 

12. Die Richter stellen fest, dass die von seinem Anwalt mitgeteilten Informationen über sein Familien- und Berufsleben es erlauben, ihn als erfahrenen Arzt zu betrachten, der von einigen Kollegen und Patientinnen als solcher anerkannt wird.

 

13. Sie fügen hinzu, dass die begangenen Taten, die einen Missbrauch der ihm übertragenen Funktionen offenbaren und mehrere Personen betroffen haben, von äußerster Schwere sind.

 

14. Indem es sich bei seiner Entscheidung lediglich auf die vom Anwalt des Angeklagten mitgeteilten Elemente bezieht, deren Inhalt es nicht präzisiert, hat das Berufungsgericht seine Entscheidung nicht ausreichend gerechtfertigt.

 

15. Die Kassation ist daher in diesen Punkten geboten, ohne dass der letzte Beschwerdepunkt geprüft werden muss.

 

Tragweite und Folgen der Kassation

 

16. Die Kassation wird auf die Strafen beschränkt, da der Schuldspruch und die zivilrechtlichen Bestimmungen nicht zu beanstanden sind.

 

Prüfung des auf Artikel 618-1 der Strafprozessordnung gestützten Antrags

 

17. Die Bestimmungen dieses Textes sind bei Ablehnung der Kassationsbeschwerde anwendbar, sei sie vollständig oder teilweise. Da der Schuldspruch gegen Herrn [Y] durch die Nichtannahme seiner ersten und zweiten Kassationsgründe rechtskräftig geworden ist, ist dem Antrag der SCP Le Bret-Desaché teilweise stattzugeben.

 

AUS DIESEN GRÜNDEN entscheidet der Gerichtshof:

 

KASSIERT UND ANNULLIERT das oben genannte Urteil des Berufungsgerichts Bordeaux vom 13. Januar 2022, jedoch nur hinsichtlich der Bestimmungen zu den Strafen;

 

Und damit erneut nach dem Gesetz geurteilt wird, innerhalb der Grenzen der so ausgesprochenen Kassation,

 

VERWEIST die Sache und die Parteien an das Berufungsgericht Bordeaux in anderer Besetzung, die durch einen speziellen, im Beratungszimmer gefassten Beschluss bestimmt wird;

 

SETZT den Betrag, den Herr [Y] der SCP Le Bret-Desaché, Anwalt beim Gerichtshof, gemäß Artikel 618-1 der Strafprozessordnung und Artikel 37 Absatz 2 des geänderten Gesetzes vom 10. Juli 1991 zu zahlen hat, auf 2.500 Euro fest;

 

ORDNET den Druck des vorliegenden Urteils, seine Eintragung in die Register der Geschäftsstelle des Berufungsgerichts Bordeaux und seinen Vermerk am Rand oder im Anschluss an das teilweise aufgehobene Urteil an;

 

So entschieden und geurteilt vom Kassationsgerichtshof, Strafkammer, und vom Vorsitzenden in seiner öffentlichen Sitzung am elften Dezember zweitausendvierundzwanzig verkündet.

 

 

Zusammenfassung des Falls

Das Urteil betrifft einen Frauenarzt, der wegen sexueller Übergriffe an mehreren Patientinnen strafrechtlich verfolgt wurde. Er wurde in erster Instanz zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung und einem lebenslangen Berufsverbot verurteilt. Der Kassationsgerichtshof hat die Entscheidung teilweise aufgehoben, weil das Berufungsgericht die verhängten Strafen nicht ausreichend begründet hat. Insbesondere wurde bemängelt, dass das Gericht sich nur auf unspezifische, vom Anwalt des Angeklagten mitgeteilte Informationen berufen hatte, ohne deren Inhalt zu präzisieren. Der Schuldspruch an sich bleibt jedoch rechtskräftig bestehen, und die Sache wird zur neuen Entscheidung über das Strafmaß an das Berufungsgericht zurückverwiesen.