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Der flüchtige Orthopäde aus Herford
Sexueller Missbrauch
BGH-Revision & internationale
Fahndung
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HERFORD

Der Fall eines Orthopäden aus Herford hat seit 2020 die Öffentlichkeit und Justiz beschäftigt und entwickelte sich zu einem der spektakulärsten Fälle sexuellen Missbrauchs durch medizinisches Personal in Ostwestfalen. Der heute 51-jährige Mediziner wurde im April 2023 wegen sexuellen Missbrauchs einer Patientin zu drei Jahren Haft verurteilt, ist jedoch seit November 2024 auf der Flucht und wird mit internationalem Haftbefehl gesucht. Die juristische Aufarbeitung ist noch nicht abgeschlossen, da der Bundesgerichtshof Teile des Urteils aufhob und eine Neuverhandlung anordnete.
Tatgeschehen und Ermittlungsverfahren
Der Übergriff vom 16. Oktober 2020
Das zentrale Tatgeschehen ereignete sich am 16. Oktober 2020 in der orthopädischen Praxis des Angeklagten in Herford. Die 23-jährige Geschädigte, die unter Depressionen litt und wegen anhaltender Rückenschmerzen in Behandlung war, suchte die Praxis für eine manuelle Therapie auf. Nach einer Schmerzmittelinjektion massierte der Orthopäde die auf der Seite liegende Patientin am Gesäß, nachdem er ihre Hose herunterergezogen hatte. Bei seiner Rückkehr ins Behandlungszimmer zog er die Patientin an ihrer Hüfte zu sich an den Rand der Liege und trat so dicht an sie heran, dass er sein erigiertes Glied an sie drückte. Anschließend drückte er seinen Penis zwischen ihre Pobacken und vollzog Stoßbewegungen bis zur Ejakulation. Die Geschädigte war während des gesamten Vorgangs wie paralysiert und konnte sich nicht bewegen.
Weitere Anklagevorwürfe und Ermittlungen
Neben dem erwiesenen Übergriff auf die erwachsene Patientin erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines damals elfjährigen Mädchens. Die Vorwürfe bezogen sich auf acht mutmaßliche Übergriffe zwischen Juli 2019 und Oktober 2020 während orthopädischer Behandlungen. Der Angeklagte wurde im Dezember 2021 in seiner Praxis festgenommen. Die Ermittlungen gestalteten sich schwierig, da die einzelnen Behandlungen des Mädchens im EDV-System der Praxis nicht ordnungsgemäß dokumentiert waren. Obwohl ein Polizeibeamter Spuren von Manipulationen an den Dateien feststellte, befanden die Richter, dass dem Angeklagten die nötigen EDV-Kenntnisse für solche komplizierten Eingriffe fehlten.
Gerichtsverfahren am Landgericht Bielefeld
Prozessverlauf und Plädoyers
Das Verfahren gegen den Orthopäden begann am 18. Januar 2023 vor dem Landgericht Bielefeld. Der Prozess war größtenteils unter Ausschluss der Öffentlichkeit angesetzt und umfasste sechs Verhandlungstage bis Ende Februar 2023. Die Staatsanwaltschaft forderte eine Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren und sah sowohl den Übergriff auf die erwachsene Patientin als auch den Missbrauch des Kindes als erwiesen an. Der Verteidiger hingegen plädierte auf vollständigen Freispruch und bestritt alle Vorwürfe. Der Angeklagte selbst wies alle Anschuldigungen von sich.
Das Urteil vom 21. April 2023
Am 21. April 2023 verkündete das Landgericht Bielefeld sein Urteil. Der Orthopäde wurde wegen sexuellen Missbrauchs in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Zusätzlich verhängte das Gericht ein fünfjähriges Berufsverbot. Von den Anklagevorwürfen bezüglich des elfjährigen Mädchens sprach das Gericht den Angeklagten frei, da die Beweise nicht ausreichten und sich Widersprüche bezüglich der Behandlungsdaten ergaben. Das Urteil blieb deutlich unter der Forderung der Staatsanwaltschaft, was das Gericht mit dem verhängten Berufsverbot begründete.
BGH-Revision und rechtliche Komplexität
Der Beschluss vom 26. März 2024
Der Angeklagte legte gegen das Urteil Revision beim Bundesgerichtshof ein, die teilweise erfolgreich war. Mit Beschluss vom 26. März 2024 (Aktenzeichen 4 StR 416/23) hob der BGH das Urteil im Maßregelausspruch bezüglich des Berufsverbots auf. Die Freiheitsstrafe von drei Jahren blieb hingegen unberührt und wurde bestätigt. Der Bundesgerichtshof verwies die Sache zur neuen Verhandlung über das Berufsverbot an eine andere Strafkammer des Landgerichts Bielefeld zurück.
Begründung der BGH-Entscheidung
Der Bundesgerichtshof beanstandete, dass das Landgericht bei der Verhängung des Berufsverbots maßgebliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt hatte. Insbesondere hatte das Bielefelder Gericht nicht gewürdigt, dass der Arzt zuvor strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten war. Das Berufsverbot nach § 70 StGB ist ein schwerwiegender Eingriff, mit dem die Allgemeinheit vor weiterer Gefährdung geschützt werden soll. Bei der Anordnung müssen alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden, einschließlich der Persönlichkeit des Täters und seiner bisherigen Führung. Der BGH betonte, dass bei der Bewertung des Berufsverbots eine Gesamtwürdigung des Täters und der Tat erforderlich ist.
Spektakuläre Flucht und internationale Fahndung
Haftantritt verweigert
Die Entwicklung des Falls nahm im November 2024 eine dramatische Wendung. Eigentlich hätte der 51-jährige Orthopäde seine rechtskräftige Haftstrafe antreten sollen, doch er erschien nicht zum festgesetzten Termin. Bereits am 9. November 2024 wurde bekannt, dass von dem verurteilten Mediziner jede Spur fehlt. Auch sein Verteidiger gab an, nichts über den Verbleib seines Mandanten zu wissen. Die Behörden reagierten mit der Ausstellung eines Haftbefehls am 22. November 2024.
Ermittlungen und Fahndungsmaßnahmen
Die Polizei leitete umgehend eine intensive Fahndung ein. Besonders brisant ist der Fall, da es sich um einen hochqualifizierten Mediziner handelt, der über entsprechende finanzielle Mittel und möglicherweise internationale Kontakte verfügt. Die Staatsanwaltschaft und Polizei prüfen verschiedene Szenarien, einschließlich einer möglichen Flucht ins Ausland. Der Fall zeigt exemplarisch die Problematik bei der Strafverfolgung vermögender und gut ausgebildeter Täter, die über die Mittel für eine Flucht verfügen.
Rechtliche Einordnung und Präzedenzwirkung
Berufsverbot nach § 70 StGB
Der Fall verdeutlicht die rechtlichen Komplexitäten bei der Anordnung eines Berufsverbots. Das Berufsverbot kann für die Dauer von einem Jahr bis zu fünf Jahren angeordnet werden, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und der Tat die Gefahr erkennen lässt, dass er bei weiterer Ausübung des Berufs erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Für immer kann das Berufsverbot angeordnet werden, wenn zu erwarten ist, dass die gesetzliche Höchstfrist zur Abwehr der vom Täter drohenden Gefahr nicht ausreicht. Der BGH stellte klar, dass bei der Bewertung alle Umstände zu berücksichtigen sind, nicht nur die Schwere der Tat.
Auswirkungen auf das Gesundheitswesen
Der Fall reiht sich ein in eine Serie von Missbrauchsfällen durch medizinisches Personal in der Region Ostwestfalen, die das Vertrauen in das Gesundheitssystem erschüttern. Die Tatsache, dass der Täter über Jahre unentdeckt praktizieren konnte und nun auf der Flucht ist, wirft Fragen zu Kontrollmechanismen und Präventionsmaßnahmen auf. Die Ärztekammer und Gesundheitsbehörden sehen sich veranlasst, ihre Überwachungssysteme zu überdenken.
Aktuelle Entwicklungen und Ausblick
Die Neuverhandlung über das Berufsverbot am Landgericht Bielefeld steht noch aus. Solange der Angeklagte flüchtig ist, kann jedoch keine ordnungsgemäße Verhandlung stattfinden. Die Fahndung nach dem Orthopäden läuft weiter, wobei auch internationale Kooperationen nicht ausgeschlossen werden. Der Fall zeigt beispielhaft die Herausforderungen der Justiz bei der Verfolgung hochgebildeter Straftäter mit entsprechenden Ressourcen.
Die Geschädigte des Falls befindet sich nach wie vor in psychologischer Behandlung und leidet unter den Folgen des Missbrauchs. Der Fall unterstreicht die Notwendigkeit besserer Schutzmaßnahmen für Patienten und schärferer Kontrollen im Gesundheitswesen. Bis zur Ergreifung des flüchtigen Orthopäden bleibt der Fall eine der spektakulärsten Straftaten im medizinischen Bereich der Region.
Quelle