M      Ü      N      S      T      E      R

Kinder- & Jugendarzt
belästigt Auszubildende
in 10 Fällen sexuell

Der Fall des Kinderarztes aus Münster als Spitze des Eisbergs

 

 

 

Der vorliegende Fall eines Kinderarztes aus Münster, der wegen sexueller Belästigung seiner Auszubildenden zu acht Monaten Bewährungsstrafe verurteilt und als unwürdig zur Ausübung des Arztberufs erklärt wurde, zeigt Strukturen des Machtmissbrauchs im deutschen Gesundheitswesen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster vom 17. April 2024 dokumentiert einen Fall, der für ein weitverbreitetes, aber oft verschwiegenes Problem steht.

 

 

Der Fall im Detail: Übergriffe über zweieinhalb Jahre

 

Der 68-jährige Kinderarzt, der seit 1996 approbiert ist und eine eigene Praxis betreibt, belästigte zwischen November 2016 und Februar 2019 zwei seiner Auszubildenden in mindestens zehn dokumentierten Fällen. Die Übergriffe zeigen ein Muster des Machtmissbrauchs:

 

  • Der Kinder- und Jugendmediziner hatte in mindestens sechs Fällen seine Auszubildende sexuell belästigt, indem er ihr an die Brüste und an das Gesäß gefasst und sie im bekleideten Vaginalbereich berührt hatte.  Hinzu kamen demütigende Handlungen wie das Ziehen einer Auszubildenden auf seinen Schoß.

 

  • Bei einer anderen Auszubildenden gab es vier Fälle sexueller Belästigungen. Einmal hatte der Arzt seinen Kopf zwischen die Brüste der Auszubildenden gelegt, zweimal ihr Gesäß gestreichelt und sie ein anderes Mal von hinten umfasst und dabei über ihre Brüste gestrichen.

 

 

Das Gericht stellte fest, dass der Arzt vorsätzlich handelte und ihm bewusst war, dass die Berührungen gegen den Willen der Betroffenen erfolgten. Eine der Auszubildenden hatte dem Täter wiederholt mitgeteilt, er solle sie nicht anfassen und in Ruhe lassen. Dennoch setzte er seine Übergriffe fort und missbrauchte das strukturelle Machtgefälle im Ausbildungsverhältnis.

 

 

Rechtliche Konsequenzen auf drei Ebenen

 

Die Ahndung des Falls erfolgte konsequent auf allen rechtlichen Ebenen. Strafrechtlich wurde der Arzt zu acht Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt und musste je 3.000 Euro Schmerzensgeld an die Geschädigten zahlen. Verwaltungsrechtlich entzog die Bezirksregierung seine Approbation, gegen die er erfolglos klagte. Berufsrechtlich stellte das Verwaltungsgericht Münster seine Unwürdigkeit zur Ausübung des Arztberufs fest.

 

Das Gericht begründete die Unwürdigkeit damit, dass der Beschuldigte gegen Kernpflichten des ärztlichen Berufs verstoßen und das Vertrauen in den Berufsstand nachhaltig beschädigt habe. Besonders schwerwiegend bewertete das Gericht, dass es sich um Personen handelte, die dem Arzt zur Ausbildung anvertraut waren.

Fact Box

Analyse

Urteil: Verwaltungsgericht Münster, 16 K 1372/23.T vom 17.04.2024

Beschuldigter: Kinderarzt (geb. 1956), niedergelassen in eigener Praxis

Tatvorwürfe: Sexuelle Belästigung von zwei Auszubildenden in 10 Fällen zwischen November 2016 und Februar 2019

 

Tatbestand

Erste Auszubildende (T1.)

  • Zeitraum: 10.11.2016 bis 14.06.2018
  • Übergriffe: Mindestens 6 Fälle
  • 2x Griffe an die Brust
  • 2x Griffe an das Gesäß
  • 2x Berührungen im Vaginalbereich oberhalb der Kleidung

Zweite Auszubildende (L3.)

  • Zeitraum: 01.07.2018 bis 25.02.2019
  • Übergriffe: Mindestens 4 Fälle
  • Dezember 2018: Auf Schoß gezogen, Kopf zwischen Brüste gedrückt
  • 2x Griffe und Streicheln des Gesäßes
  • 22.02.2019: Von hinten umfasst, gegen Tür gedrückt, über Brüste gestrichen

 

Rechtliche Konsequenzen

Strafrechtlich

  • Amtsgericht Lüdinghausen: 8 Monate Freiheitsstrafe zur Bewährung (rechtskräftig 09.12.2021)
  • Auflage: Je 3.000 Euro Schmerzensgeld an beide Geschädigte

Verwaltungsrechtlich

  • Bezirksregierung: Widerruf der Approbation (16.11.2022)
  • Klage dagegen: Anhängig vor VG Hamm (18 K 4858/22)

Berufsrechtlich

  • Verwaltungsgericht Münster: Feststellung der Unwürdigkeit zur Ausübung des Arztberufs
  • Begründung: Verstoß gegen Berufspflichten, Vertrauensmissbrauch, Machtmissbrauch

 

Rechtliche Analyse

Das Gericht stellte fest, dass der Beschuldigte:

1. Das strukturelle Machtgefälle im Ausbildungsverhältnis missbrauchte

2. Gegen die Generalpflichtenklausel des ärztlichen Berufsrechts verstieß

3. Das Vertrauen der Auszubildenden nachhaltig erschütterte

4. Vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft handelte

 

Bedeutung des Falls

Dieser Fall zeigt exemplarisch:

  • Missbrauch von Machtpositionen in der medizinischen Ausbildung
  • Systematische Übergriffe über längeren Zeitraum
  • Schwierigkeiten für Betroffene, sich zu wehren (Abhängigkeitsverhältnis)
  • Konsequente rechtliche Ahndung auf allen Ebenen

 

Häufigste Tatmuster

1. Machtmissbrauch: Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen

2. Systematische Übergriffe: Wiederholte Taten über längere Zeiträume

3. Vertuschung: Verzögerte oder unterbliebene Meldungen

4. Vulnerable Gruppen: Besonders Auszubildende und Patientinnen betroffen

 

Rechtliche Konsequenzen

  • Strafrechtlich: Bewährungsstrafen bis mehrjährige Haftstrafen
  • Verwaltungsrechtlich: Approbationsentzug in schweren Fällen
  • Berufsrechtlich: Geldbußen, Berufsverbote, Unwürdigkeit
  • Zivilrechtlich: Schmerzensgeld für Betroffene

 

Dunkelziffer-Problematik

Studien zeigen:

  • Nur 5-15% der Fälle werden angezeigt
  • Hohe Hemmschwelle bei Abhängigkeitsverhältnissen
  • Institutionelle Vertuschung in medizinischen Einrichtungen
  • Mangelnde Aufklärung über Rechte der Betroffenen

 

Systemische Probleme

Machtstrukturen

  • Hierarchische Strukturen in Kliniken und Praxen
  • Abhängigkeitsverhältnisse (Ausbildung, Karriere, Behandlung)
  • Mangelnde Kontrolle und Transparenz

Institutionelle Defizite

  • Fehlende oder unzureichende Meldesysteme
  • Mangelhafte Schulungen zu Grenzwahrung
  • Priorität des Rufschutzes vor Opferschutz
  • Unzureichende Präventionskonzepte

Rechtliche Lücken

  • Komplexe Meldewege
  • Lange Verfahrensdauern
  • Unklare Zuständigkeiten zwischen verschiedenen Instanzen