München ⎢ Stand: 24. Mai, 7:38

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Der Fall Wolfgang H.

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Münchner Gastroenterologe vergewaltigte mindestens 17 Patientinnen während Darmspiegelungen im Beisein seiner Kolleginnen

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Die Ohnmacht im Behandlungsraum

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Wie ein Münchner Arzt seine Macht missbrauchte & was das über unser Gesundheitssystem sagt

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Der Fall, der alles verändert & niemanden erreicht

 

Es war ein Prozess, der alle Beteiligten zutiefst aufwühlte – die Betroffenen, die Öffentlichkeit und ein Gesundheitssystem, das bis heute kaum wirksame Schutzmechanismen bietet. Anfang Januar 2025 stand Dr. Wolfgang H., ein 52-jähriger Münchner Gastroenterologe, vor der 9. Großen Strafkammer des Landgerichts München I unter Vorsitz von Christian Daimer. Die Vorwürfe: 19-facher sexueller Missbrauch und Vergewaltigung während Koloskopien, ausgeführt an den unter Narkose stehenden Patientinnen.

Fact Box

Tatzeitraum
2017 bis 2021
Tatort
Gemeinschaftspraxis für Gastroenterologie, München-Sendling
Täter
Dr. Wolfgang H., Gastroenterologe (52 Jahre alt, bei Prozessbeginn)
Anzahl der Fälle
19 angeklagte Fälle (17 Schuldsprüche)
Tatmuster
Sexuelle Übergriffe während Koloskopien bei Patientinnen unter Narkose
Unnötige Penetration der Vagina mit Fingern
Betroffene meist junge, schlanke Frauen
Übergriffe im Beisein von medizinischem Personal (Anästhesistin, Arzthelferinnen)
Bearbeiter*innen
Vorsitzender Richter: Christian Daimer
Staatsanwältin: Susanne Kempter
Verteidigerin: Julia Weinmann (Verteidigung von Dr. Wolfgang H.)
Aufdeckung
Angestoßen durch vier Arzthelferinnen, die sich untereinander und an den zweiten Praxisinhaber wandten
Austausch in einer Chatgruppe über das weitere Vorgehen
Anzeige erst nach Jahren aus Angst, Scham und Sorge vor Konsequenzen
Prozessbeginn
07. Januar 2025, Landgericht München I
Urteil
31. Januar 2025, 17-fache Vergewaltigung und sexueller Missbrauch
Freiheitsstrafe: 6 Jahre, 6 Monate
Kein Berufsverbot verhängt
Urteil noch nicht rechtskräftig (Revision angekündigt)
Gerichtliche Einschätzung
Die vier Zeuginnen galten als glaubwürdig und ohne Belastungseifer
Strafmildernd: Ersttäter, Taten teilweise Jahre zurück
Strafverschärfend: Massive psychische Folgen für identifizierte Geschädigte
Die Aussagen der Zeuginnen stimmten mit Gutachten von biomechanischen und medizinischen Sachverständigen überein
Gesellschaftliche und mediale Reaktion
Kaum öffentliche Debatte außerhalb Bayerns
Bundesweite Berichterstattung fast ausschließlich auf Basis identischer dpa-Meldungen, ohne eigene investigative Tiefe
Keine Proteste oder Petitionen wie z. B. in Leuven, Guernsey, Avignon
Feminist*innen bleiben in Deutschland stumm
Keine Konsequenzen oder Veränderungen im Gesundheitssektor
PSM (Professional Sexual Misconduct/Medical Sexual Abuse – hier im übertragenen Sinn: sexualisierte Gewalt durch medizinisches Personal)-Studienlage in Deutschland sehr dünn

Die Macht der Verdrängung & die Rolle der Arzthelferinnen

 

Schon zu Beginn des Prozesses zeigte sich die enorme Belastung: Dr. Wolfgang H. verbarg sein Gesicht mit einem Pappordner vor den Kameras. Seine Ehefrau war zur Unterstützung im Sitzungssaal anwesend. Als seine Personalien festgestellt wurden, betonte er direkt, er sei Familienvater. Während die Staatsanwältin Susanne Kempter die Anklage verlas, wirkte er aufmerksam und machte sich Notizen. Am ersten Verhandlungstag äußerte sich der 52-Jährige jedoch nicht zu den schweren Vorwürfen.

 

Doch die Verteidigerin Julia Weinmann erklärte für ihren Mandanten gleich zu Prozessbeginn: «Er hat sich immer an alle medizinischen Grundsätze gehalten.» Sie bestritt im Namen von Dr. H. sämtliche Vorwürfe «vollumfänglich» und sprach von einem Komplott eines Kollegen und der Arzthelferinnen, die ihn aus der Praxis drängen wollten.

Die Anklage

 

Staatsanwältin Susanne Kempter hatte erklärt, zwischen 2017 und 2021 habe Dr. Wolfgang H. während elektiver Koloskopien sexuelle Handlungen an bewusstlosen Patientinnen vorgenommen. Diese hatten in Narkose und in Linksseitenlage gelegen, als er mit seinem Zeige- oder Mittelfinger in den Vaginalbereich eingegriffen hatte.

 

Bereits 2017 hatte eine Arzthelferin beobachtet, wie ihr Chef während einer Koloskopie den Finger in den Vaginalbereich einer sedierten Patientin bewegte. Sie schilderte später: «Ich dachte, ich habe da etwas gesehen, was nicht sein kann.» Unsicher und fassungslos hatte sie eine Kollegin gebeten, an diesem Tag mit ihr die Räume zu tauschen – und fragte, ob ihr etwas auffalle. Am Abend hatte auch die Kollegin dieselbe Beobachtung gemacht.

 

Auffällig war, dass der Arzt gerade bei bestimmten Patientinnen häufig von «schwierigen Koloskopien» gesprochen hatte, weshalb laut seiner Anweisung mehr Propofol nachgespritzt werden sollte, damit die Frauen besonders tief narkotisiert waren.

 

Die Arzthelferinnen, die dem Mediziner während der Untersuchungen assistiert hatten, hatten sich letztendlich in einer Chatgruppe über das weitere Vorgehen ausgetauscht und sich dazu durchgerungen, den zweiten Praxisinhaber zu informieren.

 

Vor Gericht sagten die vier Angestellten aus, sie hätten in vielen Fällen beobachtet, wie Dr. H. mit der rechten Hand das Koloskop geführt und gleichzeitig den Zeige- oder Mittelfinger in die Vagina der Patientin eingeführt hatte. Betroffen waren dabei meist «junge, schlanke Frauen».

 

Die Anästhesistin hatte sich bei den Eingriffen stets am Kopfende aufgehalten – «die sieht das nicht», so eine der Assistentinnen. Richter Christian Daimer fragte nach, warum die Zeugin so viele Jahre geschwiegen habe. Sie sagte: «Man lebt irgendwann damit.» Weiter erklärte sie: «Man will es nicht wahrhaben, es kann nicht sein. Wer hätte mir oder meiner Kollegin schon geglaubt?» Die Angst vor Konsequenzen sei zu groß gewesen, das Erlebte habe sie verdrängt. Besonders eingebrannt hatte sich eine Szene mit einer Patientin im Aufwachraum: «Eine Frau fragte mich einmal: Ist es eigentlich normal, dass es nach einer Darmspiegelung im Vaginalbereich so brennt?» Auch in diesem Moment hatte sie geschwiegen – das bereue sie heute.

 

Als immer mehr Mitarbeiterinnen ähnliche Beobachtungen machten, schwieg das Team weiterhin. Eine Arzthelferin kündigte sogar, weil sie die Situation nicht mehr aushielt. Eine andere entschloss sich nach Jahren, zur Polizei zu gehen. «Sie ist sehr gläubig und sie fühlte sich schuldig», erklärte Richter Daimer später die Motivation dieser wichtigen Zeugin. Die Motivation des Arztes bleibt für die Zeuginnen unklar [?]. Vielleicht habe der Mediziner einfach seine Macht demonstrieren wollen: «Ich hab die Gewalt über dich, du liegst da grad.» Auch auf einem Betriebsausflug soll H. eine Mitarbeiterin im betrunkenen Zustand mehrfach unter ihrem Dirndl am Po berührt haben.

Wie der Skandal schließlich aufflog

 

Erst 2021 wandten sich die Arzthelferinnen an den zweiten Praxisinhaber. Die Ermittler mussten sorgfältig abwägen, wie viele Patientinnen auf einen möglichen Missbrauch angesprochen werden sollten, um sie nicht noch zusätzlich zu traumatisieren. Antje Brandes, Anwältin der Nebenklage, schilderte, wie schwer die Betroffenen belastet sind: Ihre Mandantinnen seien durch die Erfahrungen schwer traumatisiert und würden heute insbesondere männliche Ärzte gezielt meiden. Hinzu kam, dass betroffene Frauen, die als Opfer des Arztes identifiziert wurden, vor Gericht aussagten, sie fühlten sich «beschmutzt, beschämt und traumatisiert».

Das Urteil & offene Fragen

 

Am 31. Januar 2025 verkündete die 9. Große Strafkammer unter Vorsitz von Richter Christian Daimer das Urteil: sechseinhalb Jahre Haft wegen 17-facher Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung des Behandlungsverhältnisses. Das Gericht erklärte: «Wir sind ohne vernünftigen Zweifel zu dem Ergebnis gekommen, dass die Anklagepunkte tatsächlich erwiesen sind.» Die Kammer betonte, die Aussagen der vier Arzthelferinnen seien konstant, detailreich und erlebnisbasiert sowie mit den Gutachten von biomechanischen und medizinischen Sachverständigen übereinstimmend. Staatsanwältin Susanne Kempter hatte in einem Plädoyer eine Freiheitsstrafe von acht Jahren gefordert; das Gericht hielt jedoch sechseinhalb Jahre für ausreichend und verzichtete – entgegen der Forderung der Staatsanwaltschaft – auf ein Berufsverbot. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Wolfgang H. befindet sich auch nach dem Urteil weiterhin auf freiem Fuß, das Gericht sah keine Fluchtgefahr. Seine Verteidigerin kündigte die Revision noch im Gerichtssaal an.

 

Die Verteidigung verwies bis zum Schluss auf eine angebliche Verschwörung: Es habe einen Streit mit einem Kollegen um die Praxis gegeben und die Mitarbeiterinnen hätten diesem Kollegen nähergestanden als dem Angeklagten. Seit 2015 habe es zwischen den beiden Praxisinhabern Streit darüber gegeben, wie die Einnahmen durch Privatpatienten auf die Behandler aufgeteilt werden sollten. Ziel der Anschuldigungen könne gewesen sein, «ihn nicht nur aus seiner Praxis, sondern auch aus seinem Beruf zu drängen». Die Zeuginnen wiesen dies explizit zurück.

Öffentliches Schweigen & verzerrte Wahrnehmung

 

Medial wurde der Fall zwar bundesweit gemeldet – aber fast ausschließlich auf Basis identischer dpa-Meldungen, ohne eigene investigative Tiefe. In Millionenstädten wie Köln, Hamburg oder Berlin wissen nur wenige von dem Fall. Das gesellschaftliche Schweigen setzt sich bis heute fort – Betroffene und ihre Unterstützer*innen stehen oft alleine da und sind dadurch isoliert. Es gibt keine weiteren Lehren oder Konsequenzen und keinen Diskurs. Nicht von Institutionen, Organisationen, Vereinen, Fachgesellschaften, Ministerien und Kammern usw. Eine deutsche Besonderheit. Eine Eigenart. Emotionsloses Schweigen. Stigmatisierung. Tabuisierung.

Nach der Verurteilung: Ein Neuanfang in Berlin?

 

Während die Revision beim Bundesgerichtshof läuft und die Öffentlichkeit das Thema längst vergessen hat, praktiziert Wolfgang H. weiter – allerdings mit einer bemerkenswerten Wendung. Recherchen zeigen: Der bis Ende 2024 in München tätige Gastroenterologe hat sich nach Berlin abgemeldet und dort am Kurfürstendamm eine «telemedizinische Praxis für Gastroenterologie» eröffnet.

 

Auf der Buchungsplattform Doctolib wirbt er für seine Dienste – offiziell ausschließlich per Videosprechstunde. «Rein telemedizinisch, sofern dies medizinisch vertretbar ist», heißt es in der Praxisbeschreibung. Physischen Patientenkontakt gibt es dort nicht mehr, stattdessen eine Kooperation mit «Partnerpraxen vor Ort» bei Bedarf. Sein Spezialgebiet bleibt unverändert: «Menschen mit Bauchproblemen» und der Magen-Darm-Trakt – ausgerechnet jener Bereich, in dem er seine Verbrechen begangen hatte. Das jedoch ist lediglich das, was über Online-Plattformen einsehbar ist. In der Realität stehen längst nicht alle Informationen über ärztliche Tätigkeiten öffentlich zur Verfügung – was er tatsächlich praktiziert, ob er möglicherweise doch physische Patientenkontakte hat oder anderweitig tätig ist, lässt sich ohne tiefere Recherche nicht feststellen.

 

Ein Zufall ist das kaum. Die offiziell ausschließliche Beschränkung auf Videosprechstunden dürfte eine strategische Entscheidung sein, um physischen Patientenkontakt zu vermeiden und weitere Risiken während des laufenden Revisionsverfahrens auszuschließen. Rechtlich ist dagegen nichts einzuwenden: Ohne rechtskräftiges Urteil und ohne verhängtes Berufsverbot darf er seine Approbation weiter nutzen. 

 

Die Ärztekammer Berlin könnte theoretisch eingreifen – wenn sie von dem Fall wüsste. Doch hier zeigt sich eine entscheidende Systemlücke: Es gibt keine Meldepflicht für laufende Strafverfahren bei der Anmeldung in einem neuen Bundesland. Wolfgang H. musste sich zwar bei der Ärztekammer Berlin registrieren, war aber nicht verpflichtet, sein Verfahren anzugeben. Die Kammer fragt standardmäßig nicht nach laufenden Verfahren, sondern prüft primär die Approbation und die formalen Voraussetzungen. Nur wenn die Kammer durch Medienberichte oder Hinweise von dem Fall erfährt, könnte sie nach der Berufsordnung (§ 29) prüfen, ob eine Gefährdung für Patientinnen oder das Ansehen des Berufsstandes vorliegt. Ohne solche Kenntnis bleibt sie jedoch unwissend – ein System, das Tätern in die Hände spielt.

 

Doch die Frage bleibt: Ist es ethisch vertretbar, dass Patientinnen – ahnungslos über seine Vergangenheit – sich von einem wegen 17-facher Vergewaltigung verurteilten Arzt beraten lassen? Auch wenn kein physischer Kontakt stattfindet, könnte die spätere Kenntnis seiner Verurteilung traumatisierend oder retraumatisierend wirken. Zudem eröffnen Videosprechstunden neue Möglichkeiten für Missbrauch: visuelle Inspektionen, Befundung und Dokumentation intimer Bereiche – etwa bei seinen auf Doctolib beworbenen Behandlungsgebieten wie «Blut am After / aus dem Darm», Analerkrankungen oder Darmspiegelungsberatung – alles medizinisch legitimiert, aber im Kontext seiner Vorgeschichte hochproblematisch.

 

Der Fall zeigt mit ungeschönter Deutlichkeit die weit auseinander klaffenden Lücken im System und die schwache Verzahnung zwischen Gesundheitssystem und Justiz: Während das Strafrecht seinen Lauf nimmt, bleiben Patientinnen schutzlos. So kann ein verurteilter Täter – solange das Urteil nicht rechtskräftig ist – ungehindert den Bundeslandwechsel vollziehen und weiterpraktizieren. Die Patientinnen erfahren nichts von der Gefahr, die Gesellschaft schweigt, die Medien haben das Interesse verloren.

Die medizinische Sozialisation: Pathologisierung & frühe Verinnerlichung

 

Ein Aspekt, der selten diskutiert wird, ist die Rolle der frühen medizinischen Sozialisation bei Frauen: Schon als Jugendliche erleben Mädchen in Deutschland, dass ihr Körper in gynäkologischen Untersuchungen regelmäßig kontrolliert, bewertet und mit der Menarche pathologisiert wird – häufig auch ohne klare medizinische Notwendigkeit oder ausreichende Aufklärung. Das prägt oft ein Gefühl, dass der eigene Körper vor allem ein Objekt fremder Kontrolle ist. Diese Erfahrung der frühen «Medikalisierung» kann mit dazu beitragen, dass viele Betroffene erst spät sprechen, sich schämen oder anderen Frauen gegenüber skeptisch werden, statt Unterstützung und Solidarität zu erhalten. Es kann ebenso dazu beitragen, an den eigenen Empfindungen zu zweifeln, Gefühle nicht zuzulassen oder zu verbalisieren, Gedanken zu verdrängen und Skepsis mit Rationalisierung zu begegnen.

Wer redet eigentlich darüber? Ein gesellschaftliches Tabu

 

Wenn man sich heute – etwa in Köln, Hamburg oder Berlin – umhört, wer den Münchner Fall kennt, stößt man auf Achselzucken. Wer hat das Urteil außerhalb Bayerns tatsächlich wahrgenommen? Wie vielen Menschen ist dieser Prozess überhaupt bekannt?
Auffällig ist: Über vergleichbare Skandale in den USA, in Großbritannien oder Frankreich wird in Deutschland ausführlich berichtet. So entsteht nicht selten der Eindruck, sexualisierte Gewalt durch Mediziner*innen sei primär ein Problem «anderer Länder», während man hierzulande auf der sicheren Seite sei. Die Tatsache, dass das Gegenteil der Fall ist und Deutschland deutlich hinterherhinkt, wird oft ignoriert – zumindest solange, bis es das eigene soziale Umfeld oder einen selbst betrifft.

Warum ist das so?

 

Ein Grund ist sicher, dass unabhängige, groß angelegte Studien in Deutschland fehlen – nicht zuletzt aus Ressourcengründen, aber auch aus mangelnder Bereitschaft, den eigenen Berufsstand öffentlich zu hinterfragen. Wo Forschung fehlt, bleibt das Dunkelfeld unsichtbar – und die öffentliche Wahrnehmung ist entsprechend verzerrt, vor allem, da nur ein Teil aller Gerichtsurteile in Deutschland veröffentlicht wird. Die Hürden für Betroffene – oder wie in diesem Fall in München, für Zeugen – sind mit erheblichen Risiken verbunden. Dazu zählen unzureichende Beschwerdestellen, eine schwierige Beweislage, sozialer und beruflicher Druck, Machtungleichgewichte sowie das Risiko der Stigmatisierung. Hinzu kommt oft ein Mangel an Energiereserven oder Ressourcen, da sich die Betroffenen meist noch mitten im Verarbeitungsprozess des Traumas befinden.

In Deutschland wird nur ein verschwindend geringer Teil aller Gerichtsentscheidungen veröffentlicht: Weniger als 1%. Das bedeutet konkret: Von 100 Urteilen bleiben mindestens 99 unveröffentlicht und damit für die Öffentlichkeit unsichtbar.

 

Diese extrem niedrige Veröffentlichungsquote betrifft vor allem die Gerichte der unteren Ebenen. An den Amtsgerichten, wo die meisten alltäglichen Fälle wie kleinere Zivilstreitigkeiten, Diebstähle oder Körperverletzungen verhandelt werden, werden Entscheidungen praktisch nie veröffentlicht. Auch bei den Landgerichten, die für größere Zivilverfahren und schwerwiegendere Strafsachen zuständig sind, ist die Veröffentlichungsquote minimal.

 

 

Was bedeutet das für das Strafrecht?

 

Die Konsequenzen dieser mangelnden Transparenz sind besonders im Strafrecht gravierend. Die Öffentlichkeit erfährt also von der überwältigenden Mehrheit der Verurteilungen von Straftätern schlichtweg nichts – weder wer verurteilt wurde, noch für welche Tat oder zu welcher Strafe.

 

 

Warum ist das problematisch?

 

Obwohl Deutschland sich als demokratischer Rechtsstaat versteht und mehrere Bundesgerichte die Pflicht zur Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen betont haben, scheitert dies in der Praxis oft am Aufwand für die Anonymisierung und am Ermessen der Gerichte.

 

Diese geringe Veröffentlichungspraxis führt dazu, dass ein Großteil der richterlichen Tätigkeit, insbesondere die alltägliche Verurteilung von Straftätern, im Verborgenen bleibt. Die Öffentlichkeit bekommt nur einen winzigen Ausschnitt der tatsächlichen Kriminalitätsbekämpfung und Rechtsprechung mit.

 

Das erschwert nicht nur die Arbeit von Journalisten und Wissenschaftlern, sondern auch die demokratische Kontrolle und das Verständnis der Bevölkerung für die Justiz. Das Bild, das die Öffentlichkeit von der Justiz und der Verurteilung von Straftätern hat, ist somit zwangsläufig sehr unvollständig.

 

 

 

Die unsichtbaren Betroffenen: Wenn Zweifel zur Belastung werden

 

Hinter den 17 verurteilten Fällen stehen zahllose weitere Patientinnen. In den Jahren seiner Praxistätigkeit hatte Dr. Wolfgang H. hunderte Frauen unter Narkose behandelt. Die meisten von ihnen wissen bis heute nichts von den Vorwürfen oder dem Prozess. Andere, die vom Fall gehört haben, leben mit der Ungewissheit, was während ihrer Bewusstlosigkeit tatsächlich geschehen ist. Für viele bleibt nur ein vages Unbehagen, diffuse Erinnerungsfragmente oder schlicht die quälende Frage: «War ich auch betroffen?» Viele tragen diese Gedanken vermutlich allein mit sich herum. Beratungsstellen für Betroffene sexualisierter Gewalt bestätigen, dass gerade diese Ungewissheit und das schambesetzte Schweigen eine schwere psychische Belastung darstellen können. Sie sind die unsichtbaren Betroffenen dieses Falls, deren Stimmen im öffentlichen Diskurs völlig fehlen.

Fazit

Ein strukturelles Problem, das uns alle angeht. Die Urteilsbegründung des Gerichts machte deutlich, dass die psychischen Folgeschäden für die beiden identifizierten Geschädigten außerordentlich gravierend sind.

 

Ungeachtet dessen wurde kein Berufsverbot verhängt; die Entscheidung zum weiteren Vorgehen gegen Wolfgang H. vor und nach einer möglichen Haftstrafe (das Urteil ist revisionsbedingt noch nicht rechtskräftig) wurde an die zuständige Ärztekammer delegiert. Die noch anhängige Revision stellt für zahlreiche Betroffene und Beobachter ein besorgniserregendes Signal dar. Die Belastungen durch die Ungewissheit und das naturgemäß langwierige Verfahren verstärken die Traumata zusätzlich und schaffen den Nährboden für Retraumatisierungen der Betroffenen. Die damit verbundenen Empfindungen, Gedankenschleifen und emotionalen Zustände sind für Nicht-Betroffene nur schwer nachvollziehbar – ein nicht enden wollender Ausnahmezustand.

 

Obwohl diese Leiden individuell stark variieren, dürfte das, was Außenstehende zu verstehen versuchen, nur einen Bruchteil dessen darstellen, was Betroffene tatsächlich durchleben. Gerade unter historischen Gesichtspunkten hätte es für Deutschland bereits vor Jahrzehnten klare Konzepte und harte nachhaltige Konsequenzen geben müssen. «Nie wieder ist jetzt» wird unter diesen systemischen blinden Flecken zu einer ausgehöhlten Phrase. Die Tabuisierung dieser Missstände ist beschämend.

 

Dieser Fall ist kein «Ausnahmeskandal», sondern ein Warnsignal und ein wiederkehrendes Muster. Er zeigt, wie tief sexualisierte Gewalt auch in hochregulierten, vertrauensbasierten Systemen verankert sein kann – und wie dringend die Gesellschaft nicht nur aufklären, sondern sich auch selbst verändern muss. Klare Richtlinien, Empathie, klare Sprache, Kontrolle, Validierung, Solidarität, niedrigschwellige, unabhängige und einheitliche Beschwerdesysteme sind die Mindeststandards, die Betroffene und Patient*innen erwarten dürfen.


So steht am Ende die Frage, die jede Leserin und jeder Leser sich stellen kann:

Warum ist diese Form von Gewalt und Machtmissbrauch in unserer Gesellschaft noch immer ein Tabuthema?


QUELLEN